Buch des Flüsterns
blitzschnell mit gezückter Pistole umgedreht und abgedrückt. Es hieß, er habe ihn beim Namen gerufen, damit dieser sich umdrehe und er ihm in die Augen schauen könne, sodass jener genau begreife, was ihm nun geschehe. Aber dies ist nur eine Geschichte, Tehlirian hatte nur einen einzigen Gedanken – ihn nicht zu verfehlen. Dies hatte ihn so sehr in Anspruch genommen, dass er sich beim Versuch, sogleich vom Tatort zu verschwinden, nicht sonderlich geschickt anstellte und von den herbeigeeilten Passanten festgehalten wurde. Tehlirian verteidigte sich nicht, er flüsterte bloß ununterbrochen: Ich Armenier, er Türke. Lassen Sie mich, es geht Sie nichts an ...
Während in Berlin Solomon Tehlirians Prozess begann und aus der ganzen Welt Armenier in die deutsche Hauptstadt reisten, um als Zeugen auszusagen oder bloß als Zuschauer zugegen sein zu können, bereitete Armen Garo die anderen Gruppenmitglieder vor. Obwohl er gebeten hatte, für die Bestrafung von Djemal Azmi, des Hauptschuldigen an den Massakern in Trapezunt, bestimmt zu werden, bekam Misak Torlakian die Aufgabe, Bahbud Khan Djivanșir umzubringen. Dieser war in seiner Eigenschaft als Innenminister von Aserbaidschan verantwortlich für die im September 1918 in Baku verübten Massaker, bei denen über zwanzigtausend Armenier ihr Leben verloren.
Misak Torlakian stellte sich nach Armen Garos Modell seine eigene Mannschaft zusammen, die nicht mehr als zwei bis drei Mann umfassen durfte, wollte sie nicht auffallen. Er wählte sich Harutiun Harutiunian, einen Kameraden, mit dem er unter dem Kommando von General Dro gekämpft und sich das Krankenhauszimmer geteilt hatte, als sie beide in der Schlacht am Fuße des Ararat verwundet worden waren, und Yervant Fândâkian, der wie Misak aus der Gegend um Trapezunt stammte und ebenfalls ein Kämpfer aus Dros Armee war. Die drei haben drei Monate lang intensiv nach Bahbud Khan gesucht, doch dass sie ihn aufspürten, hatten sie dem Zufall zu verdanken: Ein militanter Dașnac erkannte ihn auf einer Straße in Konstantinopel. Dann stellte sich heraus, dass Bahbud Khan sich dort als Handelsvertreter der bolschewistischen Regierung aufhielt.
Sie zogen Lose: Harutiun Harutiunian und Yervant Fândâkian würden ihm folgen, um den am besten geeigneten Ort zu bestimmen, und Misak Torlakian sollte das Urteil vollstrecken. Eine Woche darauf hatten die Mitglieder des Kommandos beschlossen, es sei am besten, Bahbud Khan vor dem Hotel »Pera Palace« zu erschießen, wo er untergebracht war. Da vor dem Hoteleingang immer zwei Limousinen auf ihn warteten und er zu keinen festen Zeiten ging oder kam, beschlossen die drei, ihm aufzulauern, indem sie in einem Café vis-à-vis endlose Partien Tavla oder Ghiulbahar spielten.
MISAKS TRAUM . Am Abend des 18. Juli 1921 fuhren die beiden Limousinen wie gewöhnlich am Eingag des Hotels »Pera Palace« vor. Bahbud Khan stieg in Begleitung von fünf weiteren Personen aus, die allesamt bolschewistische Mützen trugen. Doch anstatt das Hotel zu betreten, beschloss die Gruppe, einen Spaziergang in einem nahe gelegenen öffentlichen Park am Ufer des Bosporus zu unternehmen, wo sie sich anschließend bei einem Stand mit Erfrischungen an einen Tisch setzten. Die drei Armenier verließen das Café, mischten sich in die Menge und lauerten stundenlang in höchster Anspannung. Erst bei Einbruch der Nacht erhoben sich die sechs Männer und gingen Richtung Hotel. Misak Torlakian rannte zwischen den Autos hindurch quer über die Straße und erreichte sie vor dem Hotel auf dem breiten Bürgersteig.
Bahbud Khan Givanșir wandte sich um und sah ihn an. Dieser Abschnitt ist allen Schilderungen seitens der Mitglieder der »Nemesis«-Gruppe gemeinsam. Der Augenblick, da derjenige, der nun gleich töten wird, und derjenige, der getötet werden wird, sich anschauen. Nichts scheint mehr zu erklären oder mörderischer zu wirken als der Blick. Der nun gleich sterben wird, spürt die Gefahr, und sein Blick stürzt sich auf den anderen. Und der Mann mit der Waffe hat nun, bei all der unerschütterlichen Bestimmtheit während der Monate des Wartens und Lauerns, einen Moment des Zögerns.
Die Geschichte der Menschen ist eine Geschichte der Taten, der im Gedächtnis bleibenden Worte, aber sie ist insbesondere auch eine Geschichte der Blicke. Diese ist zwar schwer zu beschreiben, schwer zu entziffern, aber sie ist intensiver und wirklicher. Von den Blicken meiner Altvorderen kenne ich nur, was die Fotografien mir
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