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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Angesicht zu Angesicht gegenüber und schoss erneut. In diesem Augenblick verwandelte sich der Lauf seiner Waffe nicht wieder in eine Peitsche, die Schüsse knallten simultan im Traum und in der Wirklichkeit, und der Galopp des Hengstes, den er hinter sich hörte, er dröhnte ihm in Herz und Schläfen, brach ab. In die Realität zurückgekehrt, schoss Misak Torlakian noch eine Kugel in die Luft, um die bestürzten Zeugen des Vorfalls davon abzuhalten, sich auf ihn zu werfen. Nun war er hellwach und versuchte, seine Haut zu retten, also rannte er zwischen den Autos hindurch und trat dabei hin und wieder auch auf den Leib eines auf dem Boden Liegenden. Nur einer von denen mit der bolschewistischen Mütze wollte ihn am Bein packen; Misak Torlakian schoss und verwundete ihn. Er ging hinter einem Auto in Deckung und behielt die Pistole im Anschlag, bis er unter den Leuten, die ihn umringt hatten, ein paar Soldaten der französischen Militärpolizei sah. Dann legte er seine Mauser auf die Motorhaube und trat mit erhobenen Händen hinter dem Auto hervor. Er nahm die Handschellen und die Schläge derer hin, die ihn, von ihrer bis dahin empfundenen Angst beschämt, auf diese Weise dafür bestrafen mussten, dass er sie verursacht hatte. In dem Durcheinander verlor der Franzose die Schlüssel für die Handschellen. Am nächsten Morgen mussten sie ihm die Handschellen mit der Eisensäge aufschneiden, damit er beim ersten Verhör seine Erklärung niederschreiben konnte.

SECHS
    D as
Buch des Flüsterns
hatte auch eine verschwiegene Seite, sie wurde nicht nur vor mir oder vor jenen verborgen, die lauschten, sie wurde auch voreinander verborgen. Die verschwiegene Seite des
Buchs des Flüsterns
, die ich spürte, ohne sie beschreiben zu können, entdeckte ich erst viel später, als die Leute sich nicht mehr zu fürchten schienen. Nicht etwa weil die neuen Zeiten nicht auch ihre Lauscher hätten, sondern weil wir uns noch nicht an sie gewöhnt haben.
    Aurel Dimofte starb am 4. Dezember 1957, beinahe ein Jahr vor meiner Geburt. Seine Frau, Anica, brachte uns einmal die Woche, mittwochs, aus Vadu Roșca die Milch und Kuhkäse. Eines Tages brachte sie uns einen Teller mit dem gekochten Weizen, der mit gemahlenen Nüssen und Zimt bestreut und mit bunten Bonbons geschmückt war. Ich hatte noch nie solcherart zubereiteten gekochten Weizen gegessen. Die Armenier überbieten sich nicht eben mit der Totenspeise. Trotzdem, wenn der Toten gedacht wird, bereiten die Frauen eine Art Halva aus in der Pfanne gebräuntem Grieß vor, unter den auf der Herdplatte geröstete Nüsse und Rosinen gemischt werden. Etwas diesem Weizengericht Ähnliches wird nur zu Weihnachten und zu Ostern zubereitet. Es heißt
anu
ș
-abur
und wird ebenfalls aus geschältem Weizen zubereitet, aber es ist breiiger und wird mit getrockneten Früchten vermengt. Es gilt als Zeichen der Geburt und der Auferstehung und nicht so sehr des Todes, aber schließlich verbinden sich all diese Dinge. Das
anu
ș
-abur
wurde in großen Kesseln gekocht, in Platten zum Auskühlen ausgebreitet und schließlich in Schüsselchen als Nachspeise serviert. Weil sie so vielen Hunderttausenden von Toten gleichzeitig zu gedenken hatten, sahen sich die alten Leute meiner Kindheit vielleicht genötigt, ihre Verpflichtungen gegenüber den Toten etwas zu verringern.
    Wir aßen von der Speise für das Seelenheil des Aurel Dimofte. Sie war süß und gut. Großmutter fragte Tante Anica, ob viele Leute zum Totengedenken gekommen seien. Anica brach in Tränen aus und sagte uns, dass es gar kein richtiges Totengedenken gegeben habe. Sie haben die Speise auf den Tisch gestellt, haben auch ein Besteck für unseren Herrn Jesus Christus aufgelegt, haben alleine das
Vaterunser
gesprochen und das
Ewige Gedenken
gesungen, dabei haben sie die Teller erhoben und sie in den gefalteten Händen gewiegt. Weil Aurel Dimofte kein Grab mit einem Kreuz hat, und der Pope Angst hat, seinen Namen vor dem Altar und vor all den anderen Leuten auszusprechen. Als Tante Anica, ihr Tragjoch wiegend, gegangen war, sagte Großvater im Flüsterton zu Großmutter: Frag sie nicht mehr nach ihrem Mann. Er ist einer von den Aufständischen ... Wer weiß, wo seine Knochen vermodern.
    Ohne ihn recht zu verstehen, hatte ich diesen Satz von Großvater schon einmal gehört. Sie saßen unter dem Aprikosenbaum im Hof, tranken ihren Kaffee und erzählten, blätterten in den alten Fotografien oder lasen in Zeitungen. Sie sprachen einen Namen aus und

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