Buch des Flüsterns
jedoch nicht zu fragen trauen, und dass sie vor allem stets auf der Lauer liegen und lauschen. So wie ich es tat. Fasziniert vom Getuschel meines Großvaters mit dem Schwager Sahag Șeitanian, spähte ich durch einen Spalt in der Tür und sah, wie sie, über das Heft mit den vergilbten Seiten gebeugt, mal einen Zeitungsausschnitt und mal ein Brieffragment hinzufügten, die von weither gekommen waren.
Bei den fremden Namen gab es kein weiteres Zeichen. Warum dies so war, begriff ich erst später; es bedurfte keines Zeichens, denn sie waren alle tot. Neben den armenischen Namen waren Zeichen eingetragen worden, die an Kreuze erinnerten. Aber es gab auch welche, hinter denen noch nichts eingetragen war. Darunter befand sich auch der Name von Misak Torlakian, dem ich auf diese Weise in meiner Kindheit auf den vergilbten Seiten begegnet bin und dessen Namen ich bloß einmal ausgesprochen gehört habe. Und zwar unter Umständen, von denen wir gleich etwas erfahren werden. Ich habe ihn jedoch persönlich nie gesehen. Er kam ins
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mit der merkwürdigen Gewohnheit, eher zu sterben als zu leben. Und war eigentlich sehr viel gegenwärtiger, als man hätte annehmen können, denn keiner von uns wusste, wie eng Großvaters Leben tatsächlich mit dem von Misak Torlakian verbunden war.
Wir befinden uns also im Jahre 1965 in Focșani, einem Städtchen im Süden der Moldau mit neununddreißigtausend Einwohnern, mit Textil- und Lebensmittelindustrie. Damals blätterte das Kind, das ich war, das mit dünner Schnur zusammengenähte Heft durch und war ratlos angesichts der Namen, der Chronologien und durcheinandergemengten Städte. Und wir befinden uns gleichzeitig im Jahr 1895 im von den salzigen Meerwinden ausgebleichten Trapezunt, wo man die Trompeten hört, wie man sie vor dem Fall der Mauern von Jericho gehört hatte. Nun kündigen sie den Beginn der Massaker an den Armeniern an, die erst drei Monate später bei den gleichen apokalyptischen Trompetenklängen zum Stillstand kommen werden, wir befinden uns in Adana, an der anderen, der südlichen Küste Anatoliens, am Mittelmeer, wo zweitausend Dörfer von der Landkarte getilgt werden, sodass zwischen den Küsten beider Meere wie in einer großen Rinne das Blut von mehr als zweihunderttausend Menschen zusammenfließt. Und wir befinden uns gleichzeitig im Jahr 1915 im Dorf Ghiușana am Fuße der Berge, es ist zerstört, riecht nach Tod und verkohltem Holz, wie überall im Osten Anatoliens auf den sandigen Wüstenwegen nach Deir-ez-Zor. Und wir befinden uns im Jahr 1920, als Armen Garo, der zweieinhalb Jahrzehnte zuvor den Angriff auf die Osmanische Bank angeführt hatte, zusammen mit Șahan Natali die erste gerichtliche Spezialmission (Hadug Kordz) organisiert, zu deren Durchführung eine Spezialeinheit (Hadug Marmin) gegründet wird. Dass wir uns gleichzeitig in vier verschiedenen Zeiten befinden, die Trompeten von Trapezunt hören, die Trommeln der Ausrufer, die zwanzig Jahre später zur Versammlung der armenischen Bevölkerung im Morgengrauen vor ihren Häusern und mit gepackten Bündeln aufriefen, dann die Reden auf den Dașnac-Kongressen der zwanziger Jahre, bei denen die Notwendigkeit eines »Blutzolls« proklamiert wurde, sowie die Tatsache, dass all dies vom Flüstern in meiner Kindheit grundiert wurde, sollte uns nicht wundern. Die Zeit ist ein bucklig rennendes Biest, dessen Pfoten deutliche Spuren hinterlassen, aber sie kann mit allen ihren Pfoten gleichzeitig rennen. Wie lächerlich, auf der Stelle tretend und unwahr wäre es, stellte man sich die Zeit nur durch den Augenblick vor, den man erlebt. Ich habe bestimmt vereinfacht, indem ich die Zeit mit einem Wesen auf vier Beinen verglich, sie ist etwas ganz und gar Ungewöhnliches, so etwas wie ein Tausendfüßler mit einem Löwenkopf, mit einem Schnabel, mit dem sie jedoch verächtlich lächelt wie ein Mensch, mal bedeckt sie ihre Spuren mit heilendem Sand, und mal wirbelt sie diesen auf, damit die Wunden, die sie geschlagen hat, nicht trocknen können.
Armen Garos Aktion kann hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Unnachgiebigkeit mit jener verglichen werden, die Simon Wiesenthal einige Jahrzehnte später in dem Wunsch begann, die während des Zweiten Weltkriegs am jüdischen Volk verübten Verbrechen nicht unbestraft auf sich beruhen zu lassen. Nur dass Simon Wiesenthal in aller Offenheit tätig werden konnte, während die Operation »Nemesis« auch ein halbes Jahrhundert danach noch völlig unbekannt
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