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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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wärmer geworden. Oder: Wie du siehst ..., wenn der Blinde recht hatte. Und Minas stimmte zu, ja, er sah all dies. All das, was die anderen verstanden, hörten oder spürten. Ich ging die Treppe hoch und öffnete die große Tür mit der eisernen Klinke. Armaveni?, hörte ich ihn rufen. Dann: Luiza? Die Namen seiner Töchter. Ich antwortete nicht, und dann wusste er, dass ich es war. Komm herein, mein Junge. Als er dann kranker war, rief er Namen, die ich nicht kannte. Ich bekam es mit der Angst zu tun und erfuhr, dass es die Namen seiner Toten waren, auf die er wartete.
    Seine Augen waren ausgeblichen. Sie standen offen, suchten gierig. Er ließ sie den Geräuschen folgen, sodass ich glaubte, er höre mit den Augen. Ich führte ihn in die Kirche, wo er seinen Platz in der ersten Bank hatte. Dem Gottesdienst folgte er reglos. Dann gingen wir in den Garten, wo er sich auf das Kanapee unter den Kastanienbäumen setzte. Wenn der Schatten bei ihm anlangte, streckte er die Hand aus, als spürte er feine Regentropfen. Er konnte Licht und Schatten unterscheiden wie Trockenheit von Feuchtigkeit. Wenn es dunkel wurde, benötigte er keinen Führer mehr. Im Dunkeln wies er den Weg.
    DIE GESCHICHTE DES BLINDEN MINAS . Am Anfang war das Licht. Einmal schlief das Licht ein. Es träumte, und so wurde aus seinem Traum der Schatten geboren. Als ich in deinem Alter war, sagte Minas, träumte ich, blind zu sein. Im Traum war es schön. Jetzt träume ich, zu sehen ...
    In finsteren Nächten zündete er den Kerzenleuchter an und ging damit auf die Straße. Minas besaß einen Kerzenleuchter, wie ich noch nie einen gesehen hatte. Dickes Glas umhüllte ihn, es verstärkte das Licht und schützte die Flammen vor dem Wind. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden nachts in der Stadt die Lichter nicht angezündet. Selten nur fegten die Scheinwerfer eines Lastwagens durch die Straßen. Schau, sagten die Leute, der Blinde ist mit dem Kerzenleuchter in der Hand hinausgegangen.
    Dann war der blinde Minas mit seinem Kerzenleuchter der beste und nützlichste aller Menschen. Die anderen folgten ihm, bis sie, einer nach dem anderen dankend vor ihrem Haus stehen blieben. Er blieb allein mit seinem Leuchter und wanderte durch die Gassen, bis er spürte, dass sich das Dunkel ausdünnte. In mondlosen Nächten war Minas der Herr der Stadt. Im Morgengrauen kehrte er in seine Kammer zurück, hob den Schirm vom Leuchter und legte die Hand auf die Flamme, bis diese erlosch. Rund und geschwärzt bewahrte er in seiner Handfläche das Zeichen der unterdrückten Flamme. Wenn der Tag anbrach, wurde er wieder zu dem Blinden, der er immer gewesen ist.
    DIE GESCHICHTE DES BLINDEN MINAS LESEND . Minas war ein Blinder, der las. Er hatte eine Wand voll alter Bücher. Wenn er länger auf dem Bett saß und nicht seinen Knüttel hielt, nahm er ein Buch zur Hand. Er streichelte seinen festen Einband, redete oder saß einfach so da, den Blick verloren. Ab und zu blätterte er im Buch. Dann lächelte er. Wenn er sich erhob, blieb ein gelblicher Staub auf dem Boden zurück, der aus den alten brüchigen Seiten gerieselt war.
    Großvater schickte mich manchmal mit einem Buch zu ihm. Armaveni?, fragte er. Luiza? Es waren seine Schwächemomente. Dann war er vollkommen blind, und seine Augen glänzten weiß und stumpf. Eines Tages rief er: Kevork? Bist es du? Als ich fragte, wer Kevork sei, wurde Großvater traurig. He, sagte er über die Schulter hinweg zu seinem Cousin und meinem Taufpaten Sahag Șeitanian, der arme Minas hat nach Kevork Ceauș gerufen.
    Ich schlug das Buch irgendwo auf. Minas nickte zustimmend. Ich las. Er wunderte, empörte und amüsierte sich. Ein andermal: Wie denn, genau so steht es da? Er konnte es nicht glauben. Gib her, lass mal sehen. Er nahm das Buch und betastete es. Wo? Ich zeigte es ihm mit dem Finger und blieb ruhig sitzen, bis mich seine Hand berührte. Er fuhr mit dem Finger über die Seitenkante. Dann hatte er sich plötzlich Klarheit verschafft. Ja, genau so! Heimlich versuchte auch ich, die Buchseite zu betasten, aber ich merkte nichts. Ich hatte Minas in Verdacht, auch nichts zu erkennen, aber so zu tun als ob. Nur dass er manchmal das Buch nahm, die Seiten umblätterte, sie betastete und an irgendeiner Stelle mit dem Finger innehielt. Lies das noch einmal! Und es waren genau die Worte, die ihn vorhin verblüfft hatten. Wie kann man mit den Fingern auf einer glatten Buchseite lesen? Man kann es nicht, lachte Minas.
    Manchmal versammelten sich die

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