Buch des Flüsterns
ungewöhnlich weiß und rein, der Strahl der Verkündigung. Die Kirche wurde leergeräumt, damit sie renoviert werden kann. Nur der große Kronleuchter aus böhmischem Kristall, den der Gutsbesitzer Simonovici zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gestiftet hatte, blieb hängen.
In Focșani hatten wie in einigen weiteren Städten der Moldau viele reiche armenische Familien gelebt. Wie alle Armenier liebten sie es, sich fotografieren zu lassen. Mit ihren gezwirbelten Schnauzbärten, den Westen, die ihnen über dem Bauch aufzuplatzen drohten, und den strengen Blicken, die sie auf Geheiß pfiffiger Fotografen ein bisschen zur Seite oder nach oben wandten. Sie saßen auf Stühlen mit abgerundeter Rückenlehne, und die Frauen standen in schweren Kleidern und schier ohnmächtig machenden Korsagen dahinter. Der Krieg hat die Welten durcheinandergewirbelt, und der Kommunismus hat sie mit strenger Faust gleich gemacht. In ihre Häuser in der Bahngasse fielen lärmende Haufen ein, deren Stiefel die Teppiche zerfetzten. Dann wurden in den Häusern, aus denen man sie hinausgeworfen hatte, Verwaltungsinstitutionen und allerlei Museen untergebracht, die wir später dann von der Schule aus besichtigten. Die Bahnhofsgasse wurde umbenannt in Karl-Marx-Straße, ein Name, von dem Simonovici, Ferhat, Missir und Alaci noch nie etwas gehört hatten. Viele von ihnen haben sich noch vor der Ankunft der Russen in die sepiafarbene Welt der Daguerreotypien zurückgezogen und sind darin verschwunden. Andere, Geringere, die sich durch die Zeitläufte hatten schlängeln können, zogen sich in Mansarden oder in Halbkellern gelegene feuchte Stuben zurück, wo sie mit flohkleinen Herzen hören konnten, wie die russischen Stiefel durch die Gasträume trampelten. Wie es eben ging, stapelten sie die Waren aus den hastig geräumten Lagerräumen an anderen Orten, vermauerten die Goldmünzen hinter den Kacheln ihrer Öfen oder vergruben sie unter der Hundehütte.
Gleichmütig beleuchtete Simonovicis Kronleuchter die dahinfließende Zeit, ob nun Frieden herrschte oder Krieg, Hungersnot oder Überfluss. Ich betrachtete ihn gerne. Arșag, der Glöckner, nahm mich an der Hand, und wir betraten die Kirche. Komm, sagte er, lass uns dem Kronleuchter zuhören. Wir zündeten die Lichter an, gingen auf Zehenspitzen zu den Holzbänken und setzten uns nieder. Schweigend saßen wir da, hielten sogar den Atem an. In einem bestimmten Moment schlug sich Arșag mit den Handflächen zufrieden auf die Knie. Wir sind auch heute davongekommen. Der große Kronleuchter konnte Erdbeben ankündigen. In Vrancea, an der Stelle, wo sich die Berge zu den höheren Gipfeln des Bucegi-Gebirges krümmten, hatten sich die Erdmassen flüchtig und ungeordnet überlagert. Ab und zu erwachten sie aus ihrer Erstarrung. Die Erdbeben waren bis nach Bukarest zu spüren. So war es beispielsweise 1940 geschehen, als der Carlton-Block einstürzte. Die Erschütterungen hielten einige Tage an, und meine Vorfahren verlegten ihr Nachtquartier ins Lagergebäude, trauten sich erst nach einer Woche wieder in ihr Haus. Und später dann 1977, aber dies ist nunmehr schon meine Erinnerung. Arșag sagte, der Kronleuchter raschle an dem Tag, an dem es ein Erdbeben gibt, wie ein Silberwald.
Diesmal verharrte der Kronleuchter reglos. Wir hatten jeder einen Stuhl mitgebracht. Großvater setzte sich in die Mitte, und ich nahm vor ihm Platz. Es roch nach frischem Putz; die Wände waren noch nicht trocken. Die Luft war feucht, als tropfte es. Gierig sogen die Wände die Trockenheit und die Wärme auf. Ich spürte, wie sie auch nach unserer Körperwärme gierten. Es ist an der Zeit, sagte Großvater, nahm die Geige heraus und prüfte die Saiten. Er hatte sie schon zuhause sorgfältig gestimmt. Damit sich keine Dissonanz einschleicht, erklärte er. So etwas kann mit der Zeit zu Rissen führen. Er klemmte sich die Geige unters Kinn, setzte die Finger auf die Saiten und griff bedächtig nach dem Bogen. Als er die Augen schloss, wusste ich, dass er
Dle-iaman
spielen wird, das Lied von der Vertreibung. Es war eine langsame Melodie mit Tönen, die eine ganze Bogenlänge währten. Sie erhoben sich über uns und entfernten sich in immer größeren Kreisen, als tropften sie von der Erde her zum Himmel. Dann drangen sie in die Wände.
Zum Schluss horchten wir beide. Es war kein Echo zu hören. Die weißen Wände mit dem rohen Putz waren dermaßen gierig, dass sie alles aufsogen. Großvater war einverstanden und bückte
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