Buch des Flüsterns
sich, die Geige an ihren Platz zurückzulegen. Und in der gleichen Haltung, die offenen Handflächen auf den Knien, sang er nunmehr mit lauter Stimme. Das Lied des Kranichs.
Grunk.
Die Töne drangen in den Putz; dieser vergilbte ein klein bisschen. Wieder nahmen die Wände es auf, ließen sich kein Wort entgehen. Sie waren nicht mehr so bleich, hatten Leben gewonnen.
Beide saßen wir beim Feuer. Großvater horchte noch einmal, und die Stille schien ihn zufriedenzustellen. Die Kerzen waren erloschen, nur das ewige Licht mit seinem Körnchen Helligkeit war übrig geblieben. Großvater verschloss die hölzerne Kirchtür und legte den Schlüssel in das nur ihm und dem Glöckner bekannte Versteck. Dann setzten wir uns nieder. Von nun an wird es hier gut klingen. Jetzt war der günstigste Moment, um dem Lied beizustehen, in den Putz einzudringen. Die Echos werden nun so klingen, wie es sich gehört, erklärte er. Es war eine alte Geschichte. Die Töne verbanden den Anstrich. Und zwar so, dass auch die Stille sang. So taten es zu ihrer Zeit auch die Troubadoure, die nicht nur zu den Vergnügungen bestellt wurden, sondern auch die Kirchenbaumeister begleiteten. Die wirkliche Stille, so Großvater, der seine Maske und die Geige beiseitelegte und im Feuer herumstocherte, ist eine Stille, die singt.
Manchmal begleitete ich den blinden Minas bis zur Kirche. Er legte mir seine Hand auf die Schulter und ging einen halben Schritt hinter mir her. Ich war stolz auf das, was ich tat, obwohl ich so gut wie nichts tat, denn der Blinde, aus Gewohnheit hellsichtig geworden, kannte den Weg auch alleine.
Ich kannte ihn nicht anders denn als alten Mann. Fast alle Leute, in deren Mitte ich meine Kindheit verbrachte, waren alt. Was sucht dieses Kind unter uns?, fragte der Glöckner Arșag lachend. Lass ihn, antwortete Großvater Garabet. Er ist kein gewöhnliches Kind. Er ist ein an Tagen reiches Kind. Großvater nahm mich an der Hand, und wir betraten an einem beliebigen Morgen die Kirche. Erst einmal setzten wir uns hin und lauschten, Arșags Beispiel folgend, der großen Glocke. Der Silberwald im Kandelaber schwieg, ein Zeichen, dass der Boden ruhig war. Dann betrachteten wir die große Ikone am Altar. Die Muttergottes hatte keine Tränen in den Augen, ein Zeichen dafür, dass auch in den Himmeln Ruhe herrschte. Jesus ist kein gewöhnliches Kind. Siehst du? Ich kann nur sehen, dass er ein Kind mit einem kleinen Körper und einem großen Kopf ist, sagte ich. Genau das ist’s. Er war ein weises Kind und meistens traurig. Ein Kind ohne Kindheit, schon erwachsen, als er geboren wurde. Mit einem Körper, der ihn nicht fassen konnte. Deshalb sage ich, Jesus war ein an Tagen reiches Kind. Großvater Garabet machte sich mit einem solchen Vergleich gewiss lustig über mich. Eigentlich ist es nicht das Gleiche, fügte er hinzu. Er ist an seinen eigenen Tagen gealtert. Du aber bist alt aufgrund unserer Tage. Was wir und die Unseren nicht erleben konnten, wird dir hinzugefügt. Ganze Heuschober ...
Großvater ermahnte mich: Sieh mal, was Minas tut. Der wohnte in einem der beiden Gebäude des Kirchhofs, die vor hundert Jahren als armenische Schulen erbaut worden waren, eine Mädchen- und eine Knabenschule. Jetzt war das andere Gebäude die Bistumskanzlei, in der es nach alten Möbeln roch, die Böden waren abgetreten, die Wände blätterten ab, und große Gemälde, die Heldengestalten oder Heilige darstellten, hingen daran. Dort gab es auch ein Porträt des Komitas als Bleistiftzeichnung, das von Haig, dem mit sechzehn Jahren an Tuberkulose gestorbenen Bruder von Vrej Papazian, mit verblüffendem Geschick angefertigt worden war. Mitunter sangen die Alten abends die Lieder von Komitas, Vater begleitete sie auf der Geige, und die Frauen weinten. Ist er tatsächlich als Verrückter gestorben?, fragte ich einmal, und plötzlich war es still um mich. Wer hat dir das gesagt?, herrschte mich mein Pate Sahag Șeitanian an. Ich habe es gelesen ..., stammelte ich. Dann begann Großvater wieder zu singen, und alle anderen sangen mit. Ich hatte recht. Erschüttert von der Tragödie seines Volkes, hatte Komitas vor Schmerz den Verstand verloren. Er starb mit verirrten Sinnen nach zwei Jahrzehnten in einem Sanatorium in Paris. Aber auch sie hatten recht, meine Alten. Verrückter als alle waren die Zeitläufte.
Ebenso brauchte ich Minas nicht zu sagen, dass er blind war. Siehst du, dass ich recht habe?, fragte ihn Großvater. Oder: Hast du gesehen, es ist
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