Buch des Flüsterns
hatten, von unten her zugeworfen hätte.
Die Kreuze auf dem Friedhof standen schütter. Es war mehr Platz übrig geblieben, als die neuen Toten besetzen konnten. Manche hatten auch für die Toten Kreuze aufgestellt, die in den Dörfern zurückgeblieben waren, aus denen sie geflohen waren, aber auch so blieb noch viel Platz zwischen den Kreuzen. Aus ihrer Kindheit damit vertraut, so viel Tod zu sehen, hatten die Armenier meiner Kindheit den Friedhof zum Waldrand hin ausgeweitet. Man sieht jedoch, dass sie die Sterbenskapazität der Gemeinde überschätzt hatten. Wir sind weniger geworden, schätzte Arșag, während er die Alleen mit seinen Schritten durchmaß. Wir haben nicht mehr die Kraft, ausreichend zu sterben. Der Exodus nach Amerika, der gleich nach dem Kriegsende eingesetzt hatte, hat den Friedhof noch unpassender erscheinen lassen. Die Wohlhabenden sind sogleich gegangen, noch vor dem endgültigen Machtantritt der Kommunisten, als die Verstaatlichungen noch nicht begonnen hatten. So waren die Familien Israelian, Varbaronian, Diarbekirian, Varteresian und Seferian geradewegs nach Argentinien gegangen, wo sie meinten, sich in sicherer Entfernung vom Kommunismus zu befinden. Die geblieben waren, Alaci, Missir, Goilav, Frenkian und viele andere, wurden aus ihren Häusern geworfen, und glücklich konnten sich diejenigen von ihnen schätzen, die nicht im Gefängnis landeten oder nicht gänzlich auf die Straße geworfen wurden, da man ihnen wenigstens die Mansardenzimmer oder Kellerräume ihrer eigenen Häuser gelassen hatte. Aber auch dort waren die Kachelöfen abgebrochen und der Ruß und Staub darin sorgfältig durchkämmt worden, damit nicht etwa zwischen den Kacheln oder in der Asche des Ofens ein paar Goldmünzen verborgen blieben. Hähnchen nannte man sie. Ich habe nie welche gesehen. Im
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habe ich erfahren, dass auch Großvater noch vor dem Krieg durch seinen Kolonialwarenhandel ein paar beiseitegelegt hatte. Als der Unfug bei Romanoaie an unserer Straßenecke begann, sind innerhalb einer Nacht die Autos aufgefahren, Gestalten in Ledermänteln haben die Türen eingetreten, die Familien in die Höfe und in den Schnee gescheucht und das Haus durchstöbert, von der Asche der Öfen bis hin zu den Daunen in den Decken und Matratzen und den Büchern in den Bibliotheken, Seite für Seite. Mit der Begründung, Romanoaie habe Handel mit Getreide getrieben, brüllten sie die entsetzten Familien an, sie sollten das Geld aus den Verstecken holen. Großvater beschloss damals, es sei das Beste, wenn seine Goldmünzen verschwänden. Weshalb er sie eines Nachts an der bestbewachten Stelle im Hof vergrub, nämlich unter der Hundehütte. Diesen Hund hatte auch ich noch erlebt, er hieß Fidel, war weiß und dermaßen struppig, dass es den Anschein hatte, als wollte er zerfließen. Zwischenzeitlich aber war die Hundehütte ein paarmal umgezogen, sodass man nicht mehr wusste, wo sie ursprünglich gestanden hatte. Ganz bestimmt befand sich während meiner Kindheit in jenem Bereich des Hofes der Gemüsegarten. Und die beste Gelegenheit, etwas zu suchen, ergab sich im Frühjahr, wenn keiner der zufällig durch unsere Straße Gehenden sich fragte, warum man den Garten umgrub. Als ich ein Kerl geworden und in der Lage war, mich am Spaten zu verausgaben, habe ich jeden Spatenhub achtsam umgewandt und auf der Suche nach dem Schatz kleingehackt. Ich habe nichts gefunden. Es ist mir nie gelungen, den Spaten so tief in den Boden zu rammen, wie es die Angst meinem Vorfahren geboten hatte.
So hatten damals die ersten Abreisenden ihre Bündel geschnappt, alles eingetauscht, was man gegen Gold eintauschen konnte, und sich über den Hafen von Constanța davongemacht, nicht einmal sie selbst wussten, wohin die Reise ging. Ihre Häuser ließen sie leer zurück, die Schrankschubladen waren durchwühlt, die Tastaturen der Wiener Pianinos zahnlückig, die Bilderrahmen leer, denn die Leinwände waren herausgetrennt, eingerollt und sorgfältig zwischen den Kleidungsstücken versteckt worden. Und so waren auch die Gräber zurückgeblieben, auf deren Steine sie ihre Namen geschrieben hatten, aber niemand wusste ihr Sterbejahr einzutragen; ein Friedhof mit nur einer Hälfte Toter. So auch die Gruft der Seferians, in der niemand beigesetzt worden war. Der alte Seferian, Kolonialwarenhändler mit Lagerräumen im Hafen von Brăila, ging, noch bevor er sein Dasein beschloss, nach Buenos Aires, wo Edoardo, sein Enkel, das mitgebrachte Geld
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