Buch des Flüsterns
Alten zum Lesen. Die Bibel war um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Konstantinopel gedruckt worden, der Stadt, die meine Alten kurz
Bolis
nannten, wenn sie von ihr sprachen. Und diejenigen, die wie Großmutter Arșaluis am Ufer des Bosporus geboren worden waren, nannten sich stolz
Boliseten
, also Städter. Dies war die Stadt, das Zentrum der Welt; und des Genozids wurde am 24. April gedacht, dem Tag, an dem die Massaker in der Stadt, also in Konstantinopel, begonnen hatten.
Die Seiten jener Bibel waren nicht eben glatt. Die Initialen jedes Kapitels waren als Tierbilder, Vögel oder Blumenmotive gestaltet, wie in den alten armenischen Manuskripten. Die Farbschichten machten sie dicker als die anderen Buchstaben. Ein zurückgebeugter Heiliger mit ausgestreckten Armen bildete den Buchstaben
Pen
. Ein im Sprung dargestellter Tiger war das
Re
. Und ein Kranich mit anliegenden Flügeln und zurückgewandtem Kopf war das
To
. Am besten gefiel mir der Buchstabe
Vo
, zwei Schwäne mit ineinander verschlungenen Hälsen. Gebrochene Liebe, sieh an, dies war der Buchstabe, mit dem auch mein Familienname begann. Für gewöhnlich verblieben Minas’ Finger auf den Buchseiten, er wandte sie ohne Hast um und fuhr sachte mit der Hand darüber, so wie man die Wangen eines Kindes liebkost. Er liest tatsächlich, vertraute mir Großvater an. Liest er in Gedanken?, fragte ich. Nein, nicht in Gedanken. Er liest. Aber man kann nichts hören! Da ist nichts zu hören. Du liest und sprichst dabei, er liest tastend, das heißt, er sieht anders. Wenn du nicht gehört werden willst, flüsterst du. Er sieht im Flüsterton.
Dann wieder sah es mitunter so aus, als lese er tatsächlich. Sonntags saßen die Männer vor dem Beginn des Gottesdienstes mit vor der Brust gekreuzten Armen in den Bänken, und die Frauen hatten ihre Hände im Schoß liegen. Minas kündigte das Kapitel aus den Evangelien an, aus dem die Verse stammten, die in der Predigt kommentiert werden sollten. Dann las er mit der gleichen Stimme, dehnte nur die Vokale, wenn sich die Worte des Erlösers wiederholten. Er liest, zischelte ich in Großvaters Ohr. Nein, er liest nicht. Er erinnert sich ... Aber er hält das Buch in den Händen ... Das Buch ist der wichtigste Gegenstand. Ohne das Buch würde er zu verstehen geben, dass es seine eigenen Erinnerungen sind. Er hatte recht. Ich bin niemandem mehr begegnet, der das Evangelium deutlicher und schöner gelesen hätte als der Blinde.
WIE DER BLINDE MINAS GESTORBEN IST . Ich schwöre, dass ich ihn zum ersten Mal meinen Namen habe rufen hören und mich gefreut habe. Von all jenen, die nicht mehr auf der Welt waren und die Minas zu erwarten schien, kann ich mich noch am besten an Kevork erinnern. Es war sein Vetter väterlicherseits. Kevork Ceauș hatte zusammen mit General Antranig in den Bergen gekämpft. Großvater hatte mir in einer alten Zeitschrift sein Foto gezeigt. Mit einer Schafhirtenmütze und einem Patronengurt. In martialischer Haltung, das eine Bein an die ansteigende Gebirgswand angewinkelt und den Gewehrkolben aufs Knie gestützt. Als er dem Ende der Finsternis auf dieser Welt nahe gekommen war, hatte Minas das Licht der anderen Welt aufscheinen sehen und wahrscheinlich nach dem gerufen, den er dort als Ersten erblickt hatte, Kevork Ceauș.
Jetzt hatte Minas nur nach mir gerufen. Ich eilte die Treppen hinab, blieb aber vor Tante Amaveni, seiner jüngsten Tochter, stehen. Sie weinte. Der Blinde war tot. Vielleicht hatte er von drüben zurückgeschaut, und der Erste, den er gesehen hat, war ich. Das aber habe ich niemandem gesagt. Ebenso wie ich verwundert war, als ich ihn nach Kevork Ceauș rufen hörte, mag Kevork Ceauș verwundert gewesen sein, als er ihn dort meinen Namen rufen hörte.
Statt einer Ikone haben sie ihm die alte Bibel in die gefalteten Hände gedrückt, deren einziger Leser er in den letzten Jahren gewesen ist. Sie wollten ihm auch die Augenlider schließen, wie es sich gebührt. Lasst nur, sagte Großvater Garabet, er hat die Augen lange genug geschlossen gehabt.
Bei der Totenwache rückten die Alten etwas weiter weg von Minas’ Kopfende. Sie fürchteten sich vor dem Toten mit den offenen weißen und glänzenden Augen – wie zwei Kieselsteine.
DREI
E s erfordert große Verantwortung, auf dieser Welt länger zu leben als Jesus Christus, sagte Großvater. Du musst stichhaltige Argumente haben, wenn du dich erkühnst, dies zu tun. Und wenn man sie nicht hat? Das wird man dann eines Tages sehen ...
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