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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Denn auf dieser Welt leben viele Menschen länger als Jesus, ohne einen bestimmten Grund zu haben, das kann man doch sehen.
    Ich dachte, dass Kennedy deshalb erschossen wurde. Wenn es so gewesen ist, war ich der einzige Mensch auf dieser Welt, der die Wahrheit kannte.
    So wurde für mich das Kino geboren. Eigentlich waren wir uns einen Film mit Stan und Ollie anschauen gegangen. Mir war der Unterschied zwischen den drei Helden Stan, Ollie und Kennedy nicht ganz klar. Damals hatten die Leute noch keinen Fernseher. Im Kino wurde vor dem Hauptfilm eine Art Nachrichtenjournal gezeigt, ein zerkratzter Streifen mit schnarrenden Stimmen. Er begann stets unverändert mit einer Ansicht vom Flughafen Băneasa und der lächelnden Gestalt von Gheorghe Gheorghiu-Dej 2 , der entweder aus dem Flugzeug stieg und den ihn Erwartenden lächelnd zuwinkte oder auf dem Boden neben dem Flugzeug wartete und den daraus Herabsteigenden lächelnd zuwinkte. Das Ende der Wochenschau bildeten stets die Auslandsnachrichten: Demonstrationen gegen den Krieg oder Arbeiterstreiks in den kapitalistischen Ländern. Während es uns gut ging. Zum 23. August, dem Nationalfeiertag, wurde die Butter um fünf Bani billiger. Was spielte es da für eine Rolle, dass man so gut wie nirgends welche kaufen konnte ...
    Manuc Derderian war ein lebhafter Mann mit schnellem Gang. Wie geht’s dir so, Manuc? Er blieb nicht stehen und antwortete; fuchtelte nur mit der offenen Hand, was so lala heißen sollte, und ging weiter. Immer wirkte er beschäftigt. Er hatte ein unglückliches Alter. Seine Familie machte es ihm schwer, drei Söhne, ebenso ungestüm wie er, glichen ihm auch sonst. Von den dreien sind zwei gestorben, der eine ist ertrunken, und der andere hatte einen Verkehrsunfall. Darüber hat er beinahe den Verstand verloren.
    Manuc kam nur selten zur Gemeinde. Seine Eltern hatten ihn in einem französischen Flüchtlingslager in Syrien zur Welt gebracht, deshalb war er katholisch getauft worden. In die Kirche kam er nur alle paar Jahre, wenn das orthodoxe Osterfest mit dem katholischen zusammentraf. Manuc war der Direktor des Unirea-Kinos. In der Stadt gab es noch ein zweites Kino namens Flacăra, ein ziemlich heruntergekommenes Gebäude, wo nur russische Kriegsfilme gezeigt wurden, zu denen sich nur diejenigen drängelten, die sich für einen Leu und fünfzig Bani zwei Stunden lang aufwärmen oder vor sich hin dösen wollten.
    Manuc schlug vor, wir sollten ins Kino gehen. Also habe ich eines Vormittags, von Großmutter Arșaluis eingemummelt und an der Hand meines Bruders Melic, der schon in die erste Klasse ging, mich auf die Gerberstraße begeben, an deren Ende es eine Kreuzung gab, wo direkt vis-à-vis der armenischen Kirche das Kino war. Wir waren begeistert, als wir wieder zuhause ankamen: Schließlich hat der Schnauzbärtige ihnen das Fenster eingeschlagen. Dann haben Stan und Ollie ihm die Windschutzscheibe an seinem Auto zerschlagen. Der hat sie böse angeschaut und ihre Haustür mit der Axt zerhauen. Dann haben sie ihm die Autotür zerdeppert. Wir ahmten sie nach, und Großvater Garabet lachte mit seinem Cousin Sahag über uns. Nichts mehr ist an seinem Platz geblieben. Am Schluss war das Auto kaputt, das Haus ist eingestürzt, und sie haben auch noch Kennedy erschossen. Großvater hörte auf zu lachen. Wir erzählten feixend, als rollte der Film mit Stan und Ollie immer noch weiter. Großvater ließ mich alles noch einmal erzählen. Ich begann noch einmal mit dem Anfang, und mein Bruder bestätigte das Erzählte. Dass also am Anfang ein paar Leute in dem Auto gesessen hatten, von denen einer, ich weiß nicht wie, mit dem Kopf nach hinten geschubst wurde, und die Frau an seiner Seite wollte aus dem Auto springen. Jetzt aber hatten wir Angst zu lachen. Denn Großvater drehte sich zu Sahag um: Ruf den Kirchenvorstand zusammen. In zwei Stunden in Seferians Gruft. Er schrieb mir etwas auf einen Zettel. Lauf zu Arșag, dem Glöckner. Den Zettel zeigst du niemandem sonst.
    Ich blieb draußen, um auf der Friedhofsallee Wache zu stehen. Es war Spätherbst, der Boden war mit welken Blättern bedeckt. Ich suchte darunter nach Nüssen und Kastanien. Die ließ ich aufeinander zurollen, wenn sie sich trafen, hatte ich gewonnen. Ich hatte keine Angst zwischen den Gräbern. Der Friedhof war so lebendig mit seinen Bäumen, dem Rasen und den Blumen, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn mir jemand die Nüsse, die sich tief in die Bodenspalten hinein verkrochen

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