Buch des Flüsterns
vergangen. Zehntausende Armenier wurden damals in der Stadt und in der näheren Umgebung der Stadt umgebracht. Auf einem anderen Foto sieht man meine Urgroßmutter im Türkensitz, die Beine unter sich gekreuzt, in Schalwars und Wickelbluse, wie es zu jenem Jahrhundertende in Konstantinopel Mode war. Dies war die Welt meines Großvaters Garabet. Mit Fes und Schalwars?, frage ich. Damals wussten wir nicht, dass Schalwars Schalwars sind und der Fes ein Fes ist. Sie waren Kleidungsstücke wie alle anderen auch.
Jetzt sitzen Großvater und die anderen im Kreis unter den Kastanien des großen Kirchhofs der armenischen Kirche von Focșani. Hinter ihnen die Grabsteine des alten Friedhofs, bevor die Toten den neuen Friedhof am Waldrand bezogen, sie neigen sich zur Seite oder sind umgefallen, die Vorderseite zum Himmel gewandt, und bedecken die alten Toten. Sie sitzen da, die Beine leicht gespreizt und die Hände in die Hüften gestemmt, als wären sie auf Streit aus. Der alte Minas stützt sich auf seinen Stock, aber auch an ihm kann man die gleiche Anspannung erkennen. In der Mitte das Feuer. Das trockene Holz aus den Vorjahren unterhält ein lebhaftes orangenes Feuer, es zerfällt knisternd. Darunter ist auch frisches Holz, das sich nach Kräften widersetzt und dichte Dunstschwaden freisetzt. Sie sitzen mit dem Gesicht zum Feuer, aber ich weiß nicht, ob sie das Feuer betrachten. Ihre Gesichter sind von Masken bedeckt. Der Erste, der sich bewegt, ist Großvater. Entschlossen tritt er mit dem rechten Fuß auf den Boden, dann mit dem linken. Als rammte er sie in den Boden. Die anderen tun es ihm nach. Es sieht so aus, als kreisten sie um das Feuer, aber sie bleiben auf der Stelle sitzen. Ihre Tritte gebären einen Rhythmus, der wie ein Trommelwirbel auf dem Boden klingt. Als hätten ihn die ausgebreiteten Häute der alten Toten gehärtet. Großvaters Stimme ist rauh und wie ein Befehl zu vernehmen: Mensch du – du Baum. Und wieder: Mensch du – du Baum. Warum geht die Sonne auf und warum geht sie unter? Sie antworten der Reihe nach. Ich kann sie unter ihren Masken nicht mehr sehen. Ihre Kaufmanns- und Handwerkerkleidung, die alten und geflickten Westen kann man kaum noch erkennen. Sie wirken wie Tuniken, von den Schatten geglättet und vergröbert. Auf ein Zeichen von Großvater hin halten sie inne. Der Kreis wird größer. Ein paar Augenblicke lang verharren sie reglos. Zuerst die Jüngsten. Sie rennen auf das Feuer zu und springen ohne Zögern darüber hinweg. Auf der anderen Seite gehen sie in die Hocke. Verblüfft, wird das Feuer kleiner, seine Zungen kriechen wie Sträucher im Wind. Nun sind die Alten an der Reihe. Das Feuer lehnt sich auf, will sich an ihre Ärmel und Hosenbeine heften. Die Springer reißen sich los, Funken stieben auf ihre Kleider, ihre Gesichter glühen. Nun ist der Blinde dran. Er kann das Feuer am besten sehen, denn er spürt schon von weitem seine Glut. Einer möchte ihm helfen, aber Großvater hält ihn zurück. Es ist der Kampf jedes Einzelnen. Der Blinde schafft es, er pflanzt zuerst seinen Stock in den Boden, dann auch die Beine. Und nimmt sogleich auch seinen tapsenden Gang wieder auf. Als Letzter springt Ohanes Krikorian. Das Feuer kommt wieder zu Kräften und heftet sich an seine Sohlen. Ohanes wälzt sich auf dem Boden, um die Flammen zu löschen, die nach ihm schnappen. Es gelingt ihm, und er sieht sich Ermutigung heischend rings um. Aber die anderen wissen und schauen weg. Tatsächlich, kurze Zeit später ist Ohanes Krikorian gestorben. Jetzt aber setzt er sich zu den anderen. Die Masken grinsen das Feuer an. Und das Feuer grinst die Masken an. Vorerst sind die Rechnungen abgeschlossen. Mit dem Sonnenaufgang, unter der neuen Sonne, werden die Fragen wieder gestellt. Bei uns im Vrancea-Land beginnt die Welt jeden Tag neu. Die Masken wechseln. Großvater Garabet hat seine abgenommen und mir das Zeichen gegeben, dass wir nun in die Kirche gehen.
In der Vorhalle brennen die Kerzen. Bei den Armeniern unterscheiden sich die Stellen nicht, an denen man Kerzen für die Lebenden und für die Toten brennt. Jeder, ob er nun lebt oder schon tot ist, nimmt sich so viel er braucht. Große Bilder schmücken die Wände. Sie wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Wien gebracht, stammen aus den Ateliers der Mechitaristen. Die Leinwände glänzen dunkel, die Gesichter der Heiligen sind vom Kerzenrauch geschwärzt. Die Heiligenscheine über ihren Köpfen kann man kaum noch erkennen. Allein, gewiss,
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