Buch des Flüsterns
Lebensunterhalt. Wenn es nicht genug Uhren gab, um seine Ausgaben zu decken, und sie waren nicht eben gering, schliff er unter dem Pult den einen oder anderen Brillanten, den eine der eigenschaftslos aussehenden Gestalten geklaut hatte, die nach Einbruch der Nacht an sein Fenster klopften. Und wenn niemand auftauchte, ordnete er seine Fotos und schaute sie sich lange an. Er war Gelegenheitsfotograf, und die Gelegenheiten ergaben sich zumeist gänzlich unerwartet. Vor allem die Quästur benötigte seine Dienste, sie nahm sie in Anspruch, wenn irgendwo ein Fotograf benötigt wurde, aber keine Journalisten. Was ihn betraf, der gerne einmal mit den gewöhnlichen Kaffeehausbesuchern plauderte oder mit den Vorbeigehenden, machte sich die Quästur keine Sorgen. Die Genehmigung für seine Uhrmacherwerkstatt hatte man ihm als Geste des guten Willens erteilt, immerhin mehr, als das Gesetz einem Staatenlosen, Inhaber eines Nansen-Passes, zugestand. Und was die Diamanten betraf, die durch seine Hände gingen, die konnte er noch so gut unter seinem Arbeitspult verbergen, ihr Funkeln drang ganz gewiss auch durch die schmalen Fenster seiner Werkstatt. Deshalb hatte Arșag Sâvagian kaum eine Wahl und erfüllte diese seltsame und morbide Aufgabe, die so gar nicht zu seiner sonstigen Art zu passen schien. Lächeln!, sagte er zu den in schwarze Anzüge gequetschten Schwiegersöhnen und in engen Korsagen nach Luft japsenden Bräuten. Und den Umstehenden gab er das Zeichen zusammenzurücken, damit alle auf das Bild passten. Er stellte sie so hin, wie es sich gehörte, damit ihnen das Licht ins Gesicht und über die Wangen fiel und kein Schattenfleck entstand.
Aber Arșag Sâvagian sah sich genötigt – in letzter Zeit immer häufiger –, Gesichter zu fotografieren, die nicht lächelten. Der Tod ist nur eine andere Seinsweise des Lichts, eine Seinsweise, die nicht wiederkehrt. Die Augen sind leer, die Wangen fahl. Der tote Leib ist wie ein Brunnen, man kann so viel Licht hineinschütten wie man will, er wird nie gefüllt sein. Arșag hatte zweierlei Lampen. Ganz gewöhnliche, mit denen er die Lebenden fotografierte, und andere, viel stärkere, mit denen er die Blässe der Toten ausglich. Die an jenen viel offensichtlicher war, bei denen der Tod nicht von innen herrührte, sondern von außen, durch eine Kugel verursacht oder ein Messer, von Giften oder Stricken, die sich um den Hals geschlossen hatten. Manchmal, wenn der Geruch des Todes frisch war, eher süßlich denn sauer-bitterlich, wiesen Arșags Fotografien einen unerklärlichen Lichtfleck über der Stirn des Toten auf, den er für dessen Seele hielt. Deshalb, und um sich selbst von der Last seiner aufgezwungenen Tätigkeit zu befreien, sagte er sich: Ich, Arșag Sâvagian, bin kein Leichenfotograf, ich fotografiere Seelen.
Der Fotograf ist angekommen. Diesmal war es ein Waldrand. Die Dinge schienen sich an diesem Tag anders zu verhalten als gewöhnlich. In würdiger Haltung war der Quästor in Begleitung zweier Soldaten bei ihm zuhause vorbeigekommen, um ihn abzuholen. Sonst sprachen sie unterwegs miteinander. Sie tauschten Nichtigkeiten aus, die Worte glitten über sie hinweg wie ein Öl, das sie vom Herannahen des Todes bewahrte. Er probierte es auch diesmal, aber der Quästor schaute zum Fenster hinaus und tat so, als hörte er ihn nicht. Er hatte das Gefühl, schuldig zu sein, zum Tatort gebracht zu werden, damit er gestand. Der Quästor ging voraus. Es war dermaßen dunkel, dass Arșag mit Grausen dachte – so erinnerte er sich anschließend –, wenn wir nicht rechtzeitig stehen bleiben, stolpern wir über den Körper des Toten. Es waren drei Offiziere von der Quästur. Sie standen aufrecht und schauten, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Sie gaben ihm die Perspektive an, aus der er zu fotografieren hatte. Das Licht schoss wie ein Stein hervor, der einen Spiegel in Scherben zerspringen lässt. Bildfragmente stürzten, spitz und scharf, von allen Seiten auf ihn ein. Arșag hatte den Eindruck, überall Blut zu sehen. Wie dem Toten war auch ihm ein Blutfaden zwischen Auge und Schläfe hinabgesickert, dort, wo sich die beiden schmerzhaften Zustände vereinten – die Dunkelheit und die Stille.
Er schaute sich den Körper nicht genau an. Begnügte sich mit dem, was die Leute ihn dort tun hießen. Plötzliches und grelles Licht über einem unbeseelten, in Dunkelheit gehüllten Leib ist indezent, als risse man ihm die Hülle vom Gesicht. Auf dem Rückweg kehrte das Leben
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