Buch des Flüsterns
in die Leiche zurück. Der Leib hatte sich schwerfällig erhoben, sich an den Bäumen abgestützt, den trockenen Morast von den Kleidern geschüttelt und die welken Blätter aus dem verletzten Bart geklaubt. Er war groß, kahlköpfig, leicht vornübergebeugt. Erst als er sich das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte und noch einmal zum Objektiv des Fotoapparates geschaut hatte, erkannte Arșag Sâvagian ihn. Der Alte gab ihm ein Zeichen, er möge fotografieren, und erhob auf sehr eigene Weise den rechten Arm. Arșag wollte sagen: Lächeln Sie! Aber mit einem Mal schämte er sich. Der Alte spürte das, hörte mit seiner Verstellung auf, ließ die Arme hilflos sinken, und aus dem rechten Augenwinkel rann ihm ein feiner Blutfaden hinab. Arșag nahm das Taschentuch heraus und ging auf ihn zu, um ihn abzuwischen, aber die Stimme des Quästors hielt ihn zurück: Vorsicht! Mach bloß keinen Fehler ... Um ihm beizustehen, kehrte der Alte in den wie ein Baumstamm daliegenden Leib zurück, das Gesicht nach oben und mit einem erstarrten Blutfaden zwischen Auge und Schläfe.
Sie waren vor der Werkstatt angekommen. Arșag war plötzlich wieder bei Sinnen, der Quästor folgte ihm hinein. Arșag öffnete die Tür zur Dunkelkammer, schlug sie hinter sich zu und schob den Riegel vor. Von jenseits waren Schläge an die Tür zu hören, zuerst überraschte, dann aufgebrachte, mit Fäusten und Stiefeln. Arșag Sâvagian keuchte, schweißnass lehnte er am Holz der Tür. Bist du verrückt geworden? Mach sofort die Tür auf! Er konnte nicht. Erst einmal musste er sich überzeugen. Immer noch klaubte sich der Alte mit langsamen Bewegungen die blutbeschmierten Blätter aus dem Bart. Er lebte noch, hatte Licht. Ich habe den Apparat geöffnet, rief er denen zu, die sich draußen abmühten, die Tür aus den Angeln zu heben. Ich kann nicht aufmachen. Das Negativ verdirbt. Nur schwer gelang es ihm, den Deckel zu öffnen, denn seine ansonsten mit dieser Tätigkeit vertrauten Finger zitterten. Die Schläge endeten in einer Flut von Beschimpfungen und Flüchen. Erst eine ganze Weile später merkte Arșag, dass er das Rotlicht nicht eingeschaltet hatte. Er tastete mit zitternden Fingern herum, das Gesicht schweißüberströmt. Ich hatte Angst, das Licht einzuschalten. Weil es rot war. Ich wollte kein Rot mehr vor Augen haben. Du redest Unsinn, sagte Großvater. Licht ist Licht, und Blut ist Blut. Und dennoch, als Arșag das Foto vom Negativ ablöste, vermengten sich Licht und Blut vor seinen Augen. Nun hatte er keinen Zweifel mehr. Der Alte hatte nun wieder die Augen geschlossen, der Kopf war leicht auf die Seite gekippt, und ein Blutfaden verband das Auge mit der Schläfe. Es war tatsächlich Nicolae Iorga. 9 Er saß versonnen da, schaute auf das Bild. Die Schläge an die Tür begannen von neuem. In aller Eile fertigte er eine Kopie an, versteckte sie noch nass unter den Stapeln mit alten Fotografien und öffnete die Tür. Der Quästor riss ihm die Fotos und die Negative aus den Händen.
Seit damals wollte Arșag Sâvagian keine Fotos mehr machen. Er schloss sein Fotoatelier und verfrachtete seine Ausrüstung zusammen mit den alten Fotos in Kisten und Schachteln. Nur zwei hatte er behalten, die er sich jede Nacht anschaute. Eines, das er ein Jahr zuvor in Văleni gemacht hatte, auf dem Nicolae Iorga lächelte. Den Strohhut auf dem Kopf, stand er neben Siruni und einer Gruppe Armenier aus Ploiești, die ihn besuchen gekommen waren. Hinter ihm konnte man die Köpfe zweier Kinder erkennen. Ich habe das Foto nach beinahe siebzig Jahren in der Zeitschrift
Ararat
veröffentlicht und alle, die dazu in der Lage sein konnten, gebeten, mir Informationen über die beiden Kinder zukommen zu lassen, die man hinter der breiten Schulter von Nicolae Iorga sehen konnte. Die Antwort kam aus Paris: Anuș Kârmâzian, in Ploiești geboren und nach dem Krieg nach Frankreich gegangen, wo er einen Textilhandel betrieb, hatte sich in einem der beiden Jungs erkannt, der andere war Zadig Muradian, der ebenfalls nach Paris gelangt und ein berühmter Astronom geworden war. Sie beschrieben uns die Szene, die sich so viele Jahre zuvor abgespielt hatte, erinnerten sich an Arșag Sâvagians Apparat auf dem dreibeinigen Stativ, und wie er sie mit erhobenem Arm eingewiesen hatte.
Arșag Sâvagian, wie er zuerst Auge in Auge Nicolae Iorga gegenübersteht, dem lächelnden Riesen mit weit geöffneten Augen, von Leuten umringt, dann der andere, ebenso riesenhaft, aber reglos wie ein
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