Buch des Flüsterns
wie man eine Delikatesse verspeist, deren Genuss man in die Länge ziehen will. Zuerst die Repatriierten, dachte Stalin, dann, daruntergemischt, die Einheimischen. Bis die Sozialistische Sowjetrepublik Armenien weniger als eine Million Einwohner hat. Und was mit Nachitschewan und Bergkarabach begonnen hatte, sollte hier vollendet werden. Wenn Armenien weniger als eine Million Einwohner gehabt hätte, wäre es seines Republik-Status verlustig gegangen, und sein Territorium hätte zwischen Georgien und Aserbaidschan aufgeteilt werden können.
Bei Stalins Tod gab es auch im sowjetischen Armenien genügend Menschen, die ihn beweinten. Wahrscheinlich sogar in Sibirien, aber gewiss nur unter den alten Ortsansässigen. Die meisten beweinten ihn nicht. Und unter diesen befand sich selbstverständlich auch Simon Șeitanian. Das war nicht anders zu erwarten. Was sie vor allem unterschied, Stalin und Onkel Simon, war ihr Verhältnis zur Erde. Dass Stalins Sicht darauf falsch war, zeigte sich nun, das heißt, die Erde hat darauf bestanden, es ihm vorzuführen. Sodass Stalins Körper, der Eingeweide entleert, imprägniert mit Chemikalien, mit dem Pinsel angestrichen und aufgefrischt mit Schminke, lange Zeit unbeerdigt blieb. Während sich Simon die Erde bei der ersten Anrufung öffnete.
Es war der Herbst 1960. Verschont von der Gefahr der Deportation, begannen die Repatriierten zu heiraten und Kinder zu bekommen. So wurde Simon Șeitanian Großvater, nachdem er seine Töchter Arpine und Hermine verheiratet hatte. Und nach 1958, als sich die durch die ungarische Revolution ausgelösten Übergriffe gelegt hatten, wurde den aus Rumänien eingewanderten Repatriierten erlaubt, ihre Verwandten zu besuchen. Sodass nach beinahe 15 Jahren plötzlich Simon Șeitanian auf dem Kanapee unter dem Aprikosenbaum im Garten sitzt und ununterbrochen redet und raucht. Und auf einmal:
Armenien verdient es, geliebt zu werden. Wo man auch hinschaut, überall nichts als Steine. Im Gebirge wachsen die Steine schnell, wie Bäume. Ich habe Angst, dort zu sterben, wo sie mir Steine auf den Sarg werfen. Hier ist der Boden gut, hier lohnt es sich zu sterben.
Die Erde hörte auf ihn und hat sich ihm geöffnet. In der gleichen Nacht noch packte Onkel Simon ein Hustenanfall, ein dem Rauchen geschuldeter Husten. Er hustete, bis ihm das Herz platzte. In Focșani wurde er begraben. So ging er in den größeren Leib ein, aus dem er niemals so ganz geboren worden war. Auf dem armenischen Friedhof von Focșani war Simon Șeitanian einer unserer ersten Toten. Ihm folgte kurze Zeit später meine Urgroßmutter Heghine Terzian, die am Ufer des Bosporus geboren worden war und nun mit beinahe neunzig Jahren das andere Ufer erreicht hatte.
Jeden Morgen suchte sich Großvater zufällig ein paar Farben aus, mischte sie und strich sie mit dem Pinsel auf die Leinwand. Dann betrachtete er sie, beobachtete die Intensität der Farben, die Strichführung und die Art, wie die Farben sich durchdrangen. Schließlich stellte er fest: Wie gelassen wir heute Morgen doch sind! Oder: Heute bin ich etwas nervös aufgewacht ... Auch kam es vor, dass er ein Gespräch plötzlich abbrach und im Atelier verschwand. Dann kehrte er mit dem Pinsel oder einem Messer in der Hand und mit ölverschmierten Fingern zurück. Er bat seinen Gesprächspartner ins Atelier und wies auf die Leinwand auf der Staffelei. Schau, wie grell das Grün ist im Vergleich zum Weiß der Leinwand. Und wie unpassend mit dem darunter liegenden roten Rand. Und der Strich bricht plötzlich ab, als wäre der Maler mit einem Mal verschwunden. Der Besucher schaute verwundert auf die Leinwand mit den sich kreuzenden Linien. Und was hat das zu bedeuten?, fragte er. Es besagt, dass du mich allzu sehr aufgebracht hast. Oder im Gegenteil: Diese Verbindung von Blau und Orange scheint gelungen. Vor allem weil die Farben hier wie dort weich sind, die Konturen sanft. Und die Strichführung ist leicht geschwungen, als erstreckte der Strich sich über die Erdoberfläche. Das heißt, dass es dir trotz all deiner Bemühungen und mit all deinen Albernheiten nicht gelungen ist, mich aus der Fassung zu bringen.
Was das Verständnis der Welt sehr viel einfacher machte. Alles ist nur eine Frage der Kombination von Strich und Farben. Einschließlich der Seele. Diese drückt sich mittels der Farbe, die ihr am besten entspricht, jeden Augenblick aus. Es wäre ein Fehler, die Welt aufgrund ihrer Formen verstehen zu wollen. Der Wein, den man in
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