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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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verstand von dem, was sie beim eingehenden Betrachten eines Fotos sagten, was ich eben verstehen konnte; sie kalkulierten die Winkel, lösten Linien auf und suchten nach neuen Techniken. Hinter dem Schrank hatten wir Negative auf Glasplatten. Aber Großvater hatte sich angepasst. Er hatte ein Vergrößerungsgerät mit einem Balg aufgetrieben, in den er den Zelluloidfilm steckte. Vor dem Lichtstrahl brachte er eine Tafel mit veränderlichem Rahmen an, wo er das lichtempfindliche Papier einfügte. Dann regelte er den Lichtstrahl, bis die Konturen scharfgestellt waren. Also bis die Pupille des Fotografierten zu einem schwarzen Punkt wurde. Danach zählte er, je nach Qualität des Negativs. Manchmal eine ganze Minute. Nun wurden die Papiere in Plastikschalen geschwenkt, in denen er Entwickler- und Fixiersubstanzen aufgelöst hatte. Schließlich hängte er das noch nasse Foto, nachdem er es in Rotlicht überprüft hatte, an eine Schnur, die durch das ganze Zimmer gespannt war. So verharrten wir im roten und wundersamen Dunkel, beugten uns über die Schalen mit chemischen Düften, waren vom Rest der Welt durch die schwarz gestrichenen Pappendeckel getrennt, mit denen Großvater die Fenster zugestellt hatte.
    Deshalb mochte ich es nicht, wenn Arșag Sâvagian zu uns kam. Ich zog mich in einen Winkel zurück. Sie bedeckten die Schalen mit den Chemikalien, schickten mich zu Großmutter und verschlossen die Tür hinter mir. Dann wusste ich, dass sie sich wieder jenes Foto anschauten.
    Die Armenier, die auf den sonnenverbrannten Hochebenen in dem von den Seen Van, Sevan und Urmia gebildeten Dreieck aufgewachsen waren, hatten ein fahl-dunkles Gesicht, wie andere Bergbewohner auch, und waren eher kleinwüchsig. Gott legt seinen Finger jedem Geschlecht auf eine bestimmte Stelle am Körper, an der er sämtliche Ausprägungen versammelt. So wie die Hausfrau, wenn sie zu Ende genäht hat, den Garn verknotet, damit sich das Kleidungsstück nicht wieder auflöst. Das, woran ich mich vor allem anderen erinnere, wenn die Alten meiner Kindheit vor meinem inneren Auge vorbeiziehen, sind die Augenbrauen. Geschwungen oder gerade, wie sie ihnen eben gegeben waren, aber dicht, häufig ineinander übergehend und deshalb leicht zu verziehen. Und vor allem schwarz, also eigensinnig, voller Leben. Hätte es eine Welt nur von Augenbrauen gegeben, so wären die Armenier meiner Kindheit ganz gewiss deren Eroberer gewesen. Mithin ist Gottes Zeichen auf dem armenischen Antlitz jener Punkt über der Nasenwurzel, an dem die Brauen ineinander übergehen. Dort nehmen sie ihren Ausgang, schwarz, gut konturiert, über der geschwungenen und stattlichen Nase. Die Augen sind durchdringend und fangen deinen Blick an jenem Punkt ein, an dem sich das Gesicht zu öffnen scheint und sich zugleich versammelt.
    Arșag Sâvagian glich nicht den anderen. Er war blond, und weil er grau geworden war, schien er noch blonder zu sein. Seine Haut war weiß, die Nase gerade, und seine Augen waren blau. Außerdem war er von hoher Statur und hatte sich noch seinen eleganten Gang bewahrt, den die Gefängnisjahre ihm nicht beschwert hatten. Auf das, was um ihn herum vorging, wirkte er abwesend, was ihm neben seinen anderen Eigenschaften einen besonderen Reiz verlieh. Arșag Sâvagian war ein Mann von Welt gewesen. Seine Jugendzeit hatte er in Konstantinopel verbracht, wo er mit der Kunst vertraut wurde, in den Kaffeehäusern zur Belebung der Gespräche gefällig zu wirken. Nach Rumänien war er nach dem Krieg von 1922 gekommen, als der größte Teil der Griechen, Italiener und die Armenier, die nach den Massakern von 1915 noch übrig geblieben waren, aus Konstantinopel vertrieben wurden. Mit der am Ufer des Bosporus erworbenen Gewandtheit fiel es Arșag leicht, die Welt von Ploiești kennenzulernen, die obere Welt, amerikanische Ingenieure von den Raffinerien, die reiche Kaufmannschaft und die Intellektuellen, die Schärpen und enge Anzüge trugen, ebenso die darunter, Scharlatane, Pferdehändler, Hehler, Zuhälter und Messerstecher. Bunt dazwischen gestreut Anarchisten und Gesetzesfürchtige, Kommunisten, Legionäre, Philogermanen und Philorussen. Auf diese Weise, so meinte Arșag, werde ich auf den Beinen bleiben, unabhängig davon, wer an die Macht kommt. Selbstverständlich täuschte er sich. Wer auch immer an die Macht kommen sollte, ihn würde man ins Gefängnis stecken.
    Arșag war alles, aber vor allem Uhrmacher und Fotograf. Mit der Uhrmacherei bestritt er seinen

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