Buch des Flüsterns
der Einzige, an dessen Tür er klopfte.
Mein Großvater legte das Foto auf den Tisch und fotografierte es noch einmal. Dann vergrößerte er das Negativ. Es hätte mehr Licht haben müssen, sagte Großvater. Dort war es zu dunkel, verteidigte sich Arșag Sâvagian. Nicht einmal ein Fleckchen Mond. Du hättest gewappnet sein müssen. Ich war es nicht. Es ist mir bis auf den heutigen Tag nicht gelungen. Weine nicht mehr, sagte Großvater. Ich weine nicht, erwiderte Arșag Sâvagian verzagt. Das hab ich mir im Gefängnis zugezogen, vom Wind.
Indem er das Foto vergrößerte und damit beinahe in dessen Raum eintrat, fügte Arșag Sâvagian sich Schmerzen zu, kratzte er mit den Fingernägeln den Grind ab, damit sich die Wunde nicht verschloss. Warum?, frage Großvater. Schließlich hast du so viele Tote verschiedenster Art fotografiert. Ich weiß nicht, zitterte Arșag von einer Kälte gepackt, die ihn nicht mehr verlassen wollte. Immer wieder habe ich darüber nachgedacht. Vielleicht erinnert er mich an Vater. Er hatte ganz genau so ausgesehen, als ich ihn in Pera, nach der Feuersbrunst im armenischen Viertel, unter den Toten entdeckte. Er erinnert mich an alle unsere Toten. Wenn sie blutbedeckt sind, gleichen sich alle Toten, nicht wahr?
Unter dem Hemd getragen, war das Foto vergilbt und an den Ecken zerknickt. Arșag Sâvagian betrachtete es so lange, bis sich die Gestalt ungewöhnlich langsam wieder zu regen begann. Der Alte richtete sich auf, stützte sich an den Baumstämmen ab, kam auf ihn zu und schüttelte sich dabei das trockene Laub aus dem Bart. Eines Morgens fand Arșag im Durcheinander auf dem Boden seiner Stube ein paar welke Blätter. Vor Schrecken fand er jetzt nur noch selten, eher zufällig und gegen Morgen in einen kurzen Schlaf. Aber die welken Blätter vermehrten sich. Um eine Erklärung für sie zu finden, begann Arșag Sâvagian, Blätter vom Bürgersteig einzusammeln, sie nachhause zu tragen und dort zu verstreuen. So fand man ihn auch eines Morgens, nicht diejenigen, die ihn gezielt suchten, sondern ein paar Streuner wie er, die durch die unverschlossene Tür eingedrungen waren, um sich ein bisschen aufzuwärmen. Er saß mit weit aufgerissenen Augen da, schaute auf das Foto und weit darüber hinaus. Auf seiner Brust und auf den Armen lagen welke Blätter, die von den Kastanien auf der Bahnhofsstraße herabgefallen waren und den Birken beim Strejnicu; vergilbt waren sie, rotbraun wie jenes Foto, das die Körpersäfte, die einem in feinen Rinnsalen die Schläfe hinabfließen können, Schweiß, Blut und Angst, verfärbt hatten.
Und dennoch, die Familiengruft der Seferians, wo die geheimen Gespräche des Kirchenvorstands stattfanden, war nicht völlig leer. Am Samstag vor Auferstehung, morgens früh, nachdem wir am Abend zuvor während der Grablegung im Kirchhof alle unter einer blumengeschmückten Truhe, die Jesus Christus’ Sarg verkörpern sollte, hindurchgegangen waren, gingen wir auf den Friedhof, um uns all unserer Toten zu erinnern. Die Familien versammelten sich an ihren Gräbern und warteten auf den Pfarrer, der für jeden ein Gebet sprach, dabei zerteilten sie die Halva aus Grieß und gerösteten Nüssen, die hellbraunes Zimtpulver bedeckte, und vergossen ein paar Tropfen Wein auf dem vom Winterende her noch feuchten Boden rings um das Kreuz. Die Leute, von Jahr zu Jahr weniger geworden, weinten unterdrückt. Uns Kinder ließen diese Dinge gleichgültig. Der Tod war nur ein Dunst, er hatte den Duft gerösteter Nüsse und im Topf gerührten Grießes, gemahlenen und mit getrockneter Orangenschale vermengten Zimts. Wir hatten ihn vom vorherigen Feiertag im Gedächtnis behalten. Wir rannten durch die Alleen und schauten uns die Keramikporträts auf den Kreuzen an, als wären es Fotos in einem Album, spielten mit den Kastanien und Nüssen des Vorjahres, die wir unter den verfaulten Blättern gefunden hatten. Dann beobachteten wir verblüfft, wie der Pfarrer zusammen mit Arșag, dem Glöckner, vor der Gruft der Seferians das Gebet sprach. Damals wussten wir noch nicht, warum, aber wir spürten, dass die Leute mit einer gewissen Scheu hinzutraten. Und doch hatten sich die Männer schließlich im Halbkreis hinter dem Pfarrer versammelt und hörten ruhig zu. Niemand verteilte Halva, keiner goss Rotwein auf die faulen Blätter oder, wenn etwas früher Ostern war, direkt auf den Schnee. Niemand sprach, und es weinte auch niemand. War das Gebet beendet, so schlugen sie das Kreuz und gingen davon.
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