Buch des Flüsterns
eine Karaffe gießt, in eine Amphore oder durch den Trichter in eine Flasche mit engem Hals, schmeckt stets gleich. Je schärfer der Geschmack der Farbe ist, je schriller, umso wütender ist die Seele. Sind die Farben kräftig und rein, bedeutet dies Fröhlichkeit. Sind sie gedämpft, so heißt dies Ruhe. Passen sie nicht zusammen, entstehen Verdacht, Unruhe, Verstörung.
Großvater hatte ein Tagebuch mit Aufzeichnungen. Rechts oben in die Ecke schrieb er das Datum, sonst gab es nur bunte Striche. Manchmal blätterte er darin: In letzter Zeit habe ich mich nicht wirklich wohlgefühlt, sagte er. Vielleicht bin ich älter geworden. Nimm halt auch mal andere Farben ..., sagte sein Schwager Sahag Șeitanian und schlürfte an seinem Kaffee. Das geht nicht, widersetzte sich Großvater. Nicht ich wähle die Farben, sie wählen mich. Hier gibt es kein Schummeln. Was sollte es denn bringen, wenn man sich täuscht?
Großvater malte Landschaften. Manchmal nahm er seine Staffelei auf den Rücken, und wir gingen auf die Lichtung jenseits der Eisenbahnlinie. Am häufigsten aber malte er nach alten Postkarten. Er unterteilte die Karte mit feinen geraden Bleistiftlinien in Vierecke. Worauf er sie Viereck für Viereck vergrößerte. Ein andermal stellte er einige Gegenstände auf eine Stellage – Krüge, Früchte und Tücher mit Stickereien. Er betrachtete sie lange, dann begann er zu malen. Auf der Palette mischte er die Farben. Die Palette gefiel mir am besten. Sie schien mir sein gelungenstes Bild zu sein. Sie hatte eine schöne Form, abgerundet und geschwungen, wie eine Geige. Außerdem war sie bunt und in verschiedenen Techniken bemalt. Man konnte die Spuren der Pinsel sehen, mal waren sie draufgedrückt worden, dann wieder sachte darüber gestrichen, wie die Haarsträhne einer Frau. Die Spur des Messers, das die Farben wie auf dünnen Früchtescheiben, grünen oder reifen, verstrichen hatte. Oder die Spur des Fingernagels, wenn die Farben gleich mit dem Finger vermengt worden waren. Aber am allermeisten gefiel mir, dass die Palette ein endloses Gemälde war. Großvater malte, aber was ich Gemälde nannte, war die Palette. Die überflüssigen Farben ergaben eigentlich das Bild auf der Leinwand. Großvater stimmte mir zu. Es ist nützlicher, die Dinge verkehrt herum zu betrachten.
Zuerst legte ich die Serviette zurecht, meistens kippte ein Zipfel über den Rand der Stellage. Dann den Krug, unbedingt mit Wasser gefüllt, damit er nützlich aussieht, und so arrangiert, dass man den Henkel sieht. Darum die Früchte, je nach Jahreszeit. Großvater schaute sie sich minutenlang an. Er kniff ein Auge zu und maß die Proportionen mit dem Bleistift, indem er mit dem Finger hinauf- und hinabfuhr. Manchmal rief er mich herbei, damit wir uns beide ansahen, was er malte, vor allem, wenn er zufrieden war. Ich schaute mir die Gegenstände an, dann auf die Leinwand. In den meisten Fällen malte er etwas völlig anderes. Statt des Kruges befand sich auf dem Bild ein Samowar, und statt der Äpfel gab es dort Trauben zu sehen. Das hat nichts zu bedeuten, sagte Großvater. Jede Wahl geschieht zufällig. Und warum habe ich dann diese Dinge dort hingesetzt? Und welchen Sinn hat es, dass du immer wieder hinschaust? Es ist ganz gut, sagte er, sich hin und wieder zu unterbrechen. Wenn man immerzu ein Ding anschaut, das gleiche Ding, dann sieht man es nicht mehr. Und schließlich kommt dieser Samowar nicht aus dem Nichts, ebenso wenig die Trauben. Es ist das Modell, das ich vor einem Monat hier stehen hatte. So ist es, bestätigte ich. Von damals, als du die Weinflasche mit den Pfirsichen gemalt hast. Das heißt, dass jetzt die Zeit dafür reif ist, sagte er.
Malte er keine Trauben statt Äpfeln und Pfirsiche statt Trauben, so malte Großvater, wie schon gesagt, Fotografien und Postkarten ab. Die er geschickt vergrößerte, und deren Einzelheiten er minutiös bewahrte. Vor Zeiten hatte er Pastellfarben direkt auf die Fotografien verteilt. Wir besaßen Alben mit farbigen Fotos aus den zwanziger Jahren. Aus der Zeit, als deine Großmutter jung war und all diese Farben verdiente. Der Zauber besteht darin, sich querzustellen zum Fluss der Zeit. Als die Farbfotografie noch nicht erfunden war, war es etwas Besonderes, sie bunt auszumalen. Jetzt, da man sie mit allen Farben herstellen kann, ist es angenehmer, hinter den Farben die Töne von Schwarz und Weiß zu entdecken.
Ich war ein Kind und konnte diese Dinge nur schwer begreifen. Aber ich hörte zu und
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