Buch des Flüsterns
gefällter Baumstamm, das getrocknete Blut im Gesicht. Dann verging die Zeit schnell. Weder wollte der Fotograf Arșag weitermachen, noch hat man ihn deswegen noch einmal aufgesucht. Während der Kriegszeit Tote zu fotografieren, war die nutzloseste Sache überhaupt. Der Tod breitete sich über die Welt aus und nahm, wie die Facetten im Auge der Bienen, unzählige Gesichter an. Als der Krieg zu Ende war, in Arșag Sâvagians Schubladen funkelten keine Brillanten mehr, auch widerhallten die Kaffeehäuser nicht mehr von seiner warmen, von Alkohol und Tabak aufgerauhten Stimme, wartete er, den Blick auf seinen Fotografien verloren, darauf, dass ihm die Rechnung vorgelegt werde, die er zu bezahlen hatte. Tatsächlich kamen eines Nachts andere Menschen, andere Uniformen, aber sie traten auf die gleiche Weise gegen seine Tür. Auch diesmal öffnete Arșag Sâvagian nicht, nur zeigten diese sich nicht mehr überrascht. Sie strengten sich ein bisschen an und schlugen die Tür ein. Arșag, der währenddessen lediglich die Fotografien im Riss zwischen Fußboden und Wand versteckt hatte, zeigte sich über die Art und Weise ihres Eindringens keineswegs verwundert. Geduldig wartete er ab, bis sie alle Schachteln mit alten Fotos durchwühlt, die Vorhänge heruntergerissen, die Bücher aus dem Regal Seite für Seite durchgeblättert, die Teppiche zusammengerollt und den Fußboden abgeklopft hatten. Er bemühte sich nur, seine Augen aufs Fenster gerichtet zu halten, damit er nicht zwanghaft in jene Ecke schaute, in der seine Fotos in der schmalen Ritze zwischen Holz und Wandputz steckten. Der Grund dafür, dass er für schuldig galt, war denkbar einfach: Sein Name befand sich sicherlich auf der Liste der Quästur-Mitarbeiter. Er musste nichts erklären, denn es fragte ihn niemand. Auch später nicht, als er in Aiud landete und danach in Poarta Albă, am Kanal. Dort fragte sich keiner und fragte keiner den anderen, was er zwischen den Mauern zu suchen habe. Die Frage war vielmehr, wie es kam, dass jenseits des Stacheldrahts noch jemand verblieben war.
Als sich nach vielen Jahren auch für ihn das Gefängnistor öffnete, blieb Arșag Sâvagian einsam und verdutzt auf der Schwelle stehen. Bei den ersten Schritten schaute er eher zurück auf die grauen Mauern. Die neue Welt empfing ihn weder in Freundschaft noch Feindschaft, sondern gleichmütig. Wie im Kino, wenn nach dem Beginn des Films sämtliche Plätze besetzt sind und man im Dunkeln vergeblich zwischen den Stuhlreihen herumtastet, weil alle gebannt dem Geschehen auf der Leinwand folgen. Arșag Sâvagian, in einer Welt herumirrend, die sich lange schon hinter ihm verschlossen hatte, trat furchtsam auf. Zwischen ihm und den Fotos gab es nun keine Mauern mehr, die ihn beschützt hätten. Er döste in eiskalten Zügen vor sich hin, wies unzählige Male den Entlassungsschein vor, um den Schubsern und Püffen der Kontrolleure zu entgehen, schaute auf die endlosen Felder, verließ am Bahnhof von Pitești unbemerkt den Zug und ging seine eigenen Spuren ab, die des ehemaligen Jünglings – sie waren zu schmal geworden für die klobigen Treter mit der breiten Sohle. Die Häuser auf der Bahnhofsstraße, einstmals frisch gestrichen und schön, waren grau, allein die Kastanienbäume, der Zerstörung durch Menschenhände enthoben, waren unverändert geblieben. Er hatte sich gewünscht, die Ladenbude, die ihm als Wohnung wie Geschäftsraum gedient hatte, nicht mehr vorzufinden, aber sie wartete mit verrostetem Vorhängeschloss auf ihn, das schon bei der ersten Berührung aufsprang. Auch die zwischen Fußboden und Wand verborgenen Fotos warteten auf ihn. Er ging über Scherben, setzte sich auf den Haufen durchgeschüttelter Bücher, sie waren in der Feuchtigkeit aufgequollen, trat über die zerfetzten und von Mäusen zernagten Matratzen, auf die Kleiderberge. Der Alte mit dem blutverschmierten Bart und dem sanften Blick war seine einzige Verbindung zu jener Welt geblieben, die er zurückgelassen hatte. Doch nein, da gab es hundert Kilometer weiter einen anderen Alten, dem er nun entgegenreiste, indem er wieder über schneebedeckte Felder fuhr, in anderen froststarren Zügen vor sich hin döste, vornübergebeugt durch eine weitere Bahnhofsstraße ging, diesmal in Focșani, wo es ebenfalls die Kastanien waren, die nichts außer den Jahreszeiten hatte verändern können. Der andere Alte, mein Großvater Garabet Vosganian, von dem Arșag Sâvagian die Kunst des Fotografierens gelernt hatte, war
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