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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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standen die Baumgruppen noch dichter. Onik sah ihn schon, bevor er hinter dem Baum hervortrat. Er erkannte ihn am ungleichmäßigen Klang seiner Schritte. Es herrschte Frost, aber Mesia Khacerian trug keine Mütze, und seine Haare leuchteten. Weil niemand sonst bei dem Gespräch zugegen war, können wir es fehlerlos wiedergeben. Zumal man seinen Inhalt aufgrund der Folgen ahnen kann. Mesia sagte:
    Ich weiß alles, Onik Tokatlian.
    Der Kapitän fragte nichts, er verneinte nichts und bestätigte nichts. Dies musste so geschehen. Mesia fuhr mit seiner Stimme, trocken wie ein brechender Ast, fort:
    Bei der nächsten Fahrt gehst du in Marseille an Land und verschwindest. Das ist alles, was ich für dich tun kann. Wenn du zurückkehrst, verhafte ich dich wegen Hochverrats.
    Dann traten sie ganz nahe aneinander heran. Und es wäre bloß bei einem Monolog geblieben, wenn nicht Onik Tokatlian in dem Augenblick, da sie sich gegenüberstanden, gesagt hätte:
    Gott möge dir vergeben, Mesia.
    Und Mesia nicht geantwortet hätte:
    Gott möge dir vergeben, Onik.
    Die neue Welt, in der die Neuigkeiten zu den gefährlichsten Dingen gehörten, hatte sich eher an das gewöhnt, was der kommunistische Schuster Mesia Khacerian zu sagen pflegte, als an die Worte des Onik Tokatlian, des Helden aus dem Krieg gegen den Bolschewismus. Gewiss wäre Onik, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz und Retter der rumänischen Truppen, die im Osten gekämpft hatten, auf jeden Fall verhaftet worden, jedoch erst etwas später, zusammen mit vielen anderen Offizieren der rumänischen Armee, die sich aufgrund ihres Fahneneids nicht dazu verstehen hatten können, die Uniform mit der sowjetischen Arbeitskluft und den Heldenmut mit Desertion und Haft zu verwechseln, die mit den Panzern der Sowjetarmee zurückgekehrt waren.
    Wir können uns vorstellen, und auch darin gehen wir kaum fehl, dass dieses Gespräch auf Armenisch geführt wurde. Mesia liebte seine Mutter. Sie war eine geplagte Frau, und wie alle anderen Frauen, die sich sonntags in der armenischen Schule am Ufer des Meeres versammelten, sie war nach dem Brand 1942 zur Kirche gemacht worden, war sie zutiefst davon überzeugt, dass ohne Gott nichts existieren konnte, nicht einmal ihr Leiden. Mesia konnte dieses Wort in Erinnerung an seine Mutter ausgesprochen haben oder allein deshalb, weil die von den Eltern gelernten Worte oftmals nicht überlegt, sondern aus schierer Gewohnheit geäußert werden.
    Sie gingen auseinander, ohne zurückzuschauen. Mesia Khacerian zu einer seiner nächtlichen Aushebungen und Onik Tokatlian zum Bahnhof, um mit dem Zug nachhause nach Bukarest zu fahren. Mesia Khacerian inspizierte wie jedes Mal seine Leute. Es waren mal wieder die, die wussten, wie und wo zu suchen war. Die den Geruch des Goldes erschnupperten und die Münzen aus den unvorstellbarsten Verstecken hervorholten. Mesia suchte niemals, er schaute nur zu.
    Onik Tokatlian hingegen traf sich danach mit niemandem mehr. Denn es kann sich niemand erinnern, ihn gesehen zu haben. Er ging nachhause in die Einsamkeit der Stube eines Fernstrecken-Seemanns. Er nahm die weiße Gala-Uniform mit den Goldtressen aus dem Koffer, die gleiche, in der er auf der Fotografie in Seferians Gruft abgebildet ist. Wahrscheinlich hat er sich rasiert, möglicherweise war er da schon nicht mehr Herr über sich selbst, denn unter dem Ohr wies er einen dünnen Schnitt auf, der vom Rasiermesser herrührte. Sorgfältig legte er die Uniform an, von den Socken über den Riemen bis zum geschlossenen Koppel. Auch legte er alle seine Auszeichnungen an, wahrscheinlich auch das Eiserne Kreuz der Deutschen. Dieses wurde jedoch nicht mehr an ihm gesehen, einer von denen, die nach einigen Tagen in seine Behausung gestürmt waren und der sich ganz gewiss zu seinen Freunden zählte, nahm es ihm von der Brust und warf es weg; er hatte dummerweise, in jenen Zeiten war dies jedoch nicht verwunderlich, gedacht, er müsse Onik Tokatlian schützen, denn die neuen Inquisiteure konnten ihm selbst in dem Zustand, in dem er gefunden worden war, noch etwas Böses tun.
    Seltsam ist, dass Onik Tokatlian in jenen Augenblicken das Bedürfnis gehabt haben mochte, sich im Spiegel zu betrachten. Er hat es abgelehnt, könnte man sagen, sich die Augen zubinden zu lassen, und hat dem Tod ins Antlitz geschaut. Dann schoss sich Onik Tokatlian, festlich gekleidet, sich im Spiegel betrachtend und somit Abschied nehmend von sich selbst, eine Kugel in die Schläfe.
    Der armenische

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