Buch des Todes
war. Der Afghanenrüde schloss die Augen, gähnte, als würde er vor Langeweile sterben, und legte seine lange Schnauze auf einen seiner Vorderläufe. Singsaker interessierte ihn nicht. Der Kommissar sah sich um und erblickte die Gestalt in der Küchentür. Die Mannequinpuppe war jetzt so nackt, wie Siri Holm es gewesen war. Er blieb stehen und bewunderte das schöne Handwerk. Die Puppe war aus Holz geschnitzt und dann geschliffen worden.War das Eiche? Die Glieder waren abgerundet und beweglich, und alle Proportionen stimmten. Die Puppe war eine Antiquität, Singsaker tippte auf Italien, 19. Jahrhundert. Siri Holms Wohnung war so etwas wie ein unsystematisches Museum.
Er sah sich um, suchte etwas Spezielles und wurde schließlich auf dem Boden, mitten im Zimmer fündig. Das Skalpell von Alessandro Benedetti lag an der gleichen Stelle, wo es auch beim letzten Mal gelegen hatte. Er nahm es auf und studierte die Spitze.
Verdammt, dachte er und klemmte die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ein. Sie fühlte sich warm an. Dann warf er das Messer. Es drehte sich ein paar Mal in der Luft, bevor es die Mannequinpuppe in der Küchentür traf. Die Arme und eines der Beine der Puppe zuckten wie im Todeskampf. Das Skalpell steckte in der Eichenbrust. Er hatte sich mit seiner perfekten Spitze ins Herz der Puppe gebohrt.Verdammt, dachte er noch einmal, und war erleichtert, dass Siri Holm keine Mörderin war.Aber wo steckte sie?
Er sah sich um. In diesem Chaos nach irgendwelchen Spuren zu suchen würde Zeit brauchen, wenn es überhaupt Spuren gab. Da klingelte sein Telefon. Es war Vlado Taneski. Der Journalist. Mit einer Mischung aus Verärgerung, Berufsstolz und Unsicherheit darüber, wie lange er der Belagerung durch die Krieger der Meinungsfreiheit noch standhalten konnte, drückte er auf die Taste mit dem roten Telefonhörer, eine ikonische Erinnerung an die Zeit, als Telefone noch Kabel hatten. Kurz darauf klingelte sein Handy wieder. Dieses Mal nahm er das Gespräch an. Es war Brattberg.
»Wo bist du?«, wollte sie wissen.
»Draußen vor der Wohnung von Siri Holm«, log er und gab ihr einen kurzen Bericht über seine Besuche bei Kittelsen und Jens Dahle.
»Das sind interessante Informationen«, sagte Brattberg. »Aber was machst du bei Siri Holm? Du hast doch mitbekommen, dass wir noch immer nach Vatten suchen?«
Er dachte zwei Sekunden nach. Dann erzählte er ihr von der Konservatorin, Silvia Freud.
»Eine wirklich heiße Spur ist das nicht gerade, oder? Sie hatte ein Gespräch mit jemandem im Prinsen Hotel, na und?«
»Ja, sehr konkret ist das nicht«, musste er eingestehen.
»Gar nicht konkret.Aber eine Sache lässt mich trotzdem aufhorchen. Grongstad hat mir gerade eine Übersicht gege ben, wer alles an diesem Samstag mit seiner Codekarte in der Bibliothek war. Neben Gunn Brita Dahle, Vatten und einer studentischen Mitarbeiterin, die an der Pforte gesessen hat, bis die Bibliothek schloss und keinen Zugang zumVerwaltungstrakt hatte, war nämlich auch noch die Konservatorin im Haus, Silvia Freud.Aber sie hat die Bibliothek deutlich vor dem angenommenen Tatzeitpunkt verlassen.Außerdem war Siri Holm dort.Aber sie ist wohl in Begleitung von Gunn Brita Dahle rein- und rausgekommen.Auch sie hat den Tatort vermutlich vor der entsprechenden Zeit verlassen. Sollte noch jemand anders dort gewesen sein, haben diese Personen einen normalen Schlüssel benutzt. Das ist eine gute Möglichkeit, wenn man keine Spuren hinterlassen will. Es sind nämlich eine ganze Menge Systemschlüssel im Umlauf, und ich habe das Gefühl, dass Hornemann da nicht wirklich den Überblick hat.«
»Das bringt Silvia Freud dem Mord aber eine ganze Ecke näher, als wir bisher gedacht haben.«
»Wie ich schon gesagt habe: Sowohl sie als auch Siri Holm haben die Bibliothek früh verlassen, als die Überwachungskamera noch lief.Wir haben Aufnahmen aus dem Sicherheitstrakt. Ich weiß nicht, warum du meinst, sie könnten etwas damit zu tun haben?«
»Ich auch nicht – das ist bloß so ein Gefühl.«
»Jetzt hör mal, Singsaker. Ich habe großen Respekt vor deinen Gefühlen. Ich weiß, dass sie bei früheren Ermittlungen schon sehr wertvoll waren.Aber du hast eine schwere Zeit hinter dir, und der Start nach deiner Krankheit war wirklich mehr als brutal.Also, fahr jetzt nach Hause, und ruh dich ein bisschen aus, bevor du heute Abend nach Værnes fährst und unsere Freundin aus den Staaten abholst. Eine andere Aufgabe hast du heute
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