Buch des Todes
würde.
Als er nach einem schnellen Kaffee und Brötchen in der Kantine des Krankenhauses zum Museum kam, war Dahle bereits in seinem Büro und empfing ihn unrasiert und mit Schweißtropfen auf der Stirn. Es war bald ein Uhr, und draußen bewegte die Temperatur sich auf 24° C zu. Jens Dahle zog eine Augenbraue hoch, als er die Messerspitze sah, die Singsaker ihm reichte.
»Das Fragment ist ganz sicher aus Stahl, was eigentlich nichts anderes als Eisen ist, nur mit einem höheren Kohlenstoffgehalt.Aber Stahl wurde seit der Antike auf unterschiedlichste Weise produziert. Eine nähere Analyse der Legierung könnte uns mehr über das Alter verraten. So enthalten heute fast alle modernen Werkzeuge ein bestimmtes Mineral, je nachdem für welchen Zweck der Stahl gedacht ist. Chrom zum Beispiel wird genutzt, damit Stahl nicht rostet. In sogenanntem rostfreiem chirurgischem Stahl finden wir mindestens elf Prozent Chrom neben Spuren von Nickel. Das ist bei diesem Werkzeug mit Sicherheit nicht der Fall.Aber wenn Sie das genaue Alter wissen wollen, muss ich eine C14-Analyse machen. Ich kann das für Sie in die Wege leiten, aber das dauert etwas.«
»Ein solcher Test muss wohl oder übel über unsere Techniker laufen«, sagte Singsaker. »Im Moment brauche ich nur ein vorläufiges Votum. Sie wissen nicht, woher ein solches Messer stammen könnte?«
»Dieses Fragment reicht nicht aus, um zu sagen, um was für ein Messer es sich handelt. Es kann ein Jagdmesser oder ein Schlachtermesser sein. Es stammt aus einer Zeit, in der fast jeder mit einem Messer am Gürtel herumgelaufen ist.Wegen der Spitze würde ich sagen, es handelt sich nicht um ein Rasiermesser.Aber es könnte trotzdem einem Barbier gehört haben.«
»Warum sagen Sie das?«
»In der Zeit, über die wir reden, verfügten in der Regel die Barbiere über die größte Auswahl an Messern, Sägen und Bohrern. Die haben damals nämlich nicht nur Bärte geschoren. Ein Barbier fungierte häufig auch als Chirurg oder Henker. Sie waren mit ihren Klingen einfach die unangefochtenen Experten.An den Universitäten im Süden Europas, an denen seit dem 15. Jahrhundert immer häufiger auch Sektionen akzeptiert und üblich waren, standen in der Regel Barbiere an den Sektionstischen, während die Professoren, die sich als die wahren Experten ausgaben, am Katheder hinter dem Sektionstisch aus ihren Aufzeichnungen vortrugen. Häufig stimmten dabei die Funde der Barbierchirurgen nicht mit den Manuskripten der Professoren überein, die ihr Wissen oft aus viel älteren Quellen bezogen. Im Zweifel hatte natürlich immer der Professor recht.« Dahle gluckste amüsiert.
Und Singsaker dachte, dass er schon so oft über diese Dinge gesprochen haben musste, dass er für einen Augenblick seine Trauer vergaß.
»Auf jeden Fall war das so, bis der berühmte Anatom Vesalius im 16. Jahrhundert damit begann, in Padua Sektionen vorzunehmen. Vesalius sezierte seine Leichen eigenhändig. Er war in seiner Zeit deswegen ebenso berühmt wie berüchtigt. In Pisa bekam er den Beinamen Barbierchirurg . Vesalius konnte als einer der Ersten beweisen, dass die bisherige Autorität in Sachen Anatomie, der römische Arzt Galenos aus Pergamon, einen Großteil seines Wissens aus der Sektion von Affen und anderen Tieren gezogen hatte. Vesalius fand das heraus, weil er neben Menschen auch Tiere sezierte. Noch heute sind einige von Galenos’ Fehlschlüssen in der anatomischen Nomenklatur verewigt. Der Enddarm eines Menschen ist zum Beispiel krumm und nicht gerade, was man eigentlich aus der Bezeichnung Rektum ableiten sollte. Bei Affen hingegen ist das Rektum gerade.«
Für einen Archäologen wusste Dahle erstaunlich viel über die Geschichte der Medizin. Singsaker konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass all diese Dinge irgendwie relevant für den Mord waren. Die Leiche von Gunn Brita Dahle hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit der Schautafel an der Wand hinter Kittelsen gehabt. Der Mörder schien Dahles Faszination für die Anatomie zu teilen, wenn auch auf eher perverse als wissenschaftliche Weise.
»Hat Vesalius Zeichnungen oder Schautafeln angefertigt?«, fragte er.
»Er selbst nicht, aber er hatte einen oder mehrere namentlich nicht bekannte Illustratoren«, sagte Dahle. »Vesalius hat den ersten wirklich seriösen anatomischen Atlas herausgegeben, De humani corporis fabrica . Das Buch besteht aus fünfundachtzig detaillierten grafischen Illustrationen des menschlichen Körpers, bei denen die
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