Buch des Todes
zum Gürtel seines Umhangs, kam wie aus dem Nichts auf ihn zu und schnappte sich das Buch, noch bevor er seinen Griff festigen konnte. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Statt wegzurennen und in der Menschenmenge zu verschwinden, blieb der Junge ein paar lange Augenblicke vor ihm stehen. Er wollte gerade seinen Arm ausstrecken und versuchen, ihn zu ergreifen, als der Kleine losrannte.
Alessandro war wütend. Er hatte schon mehrfach erleben müssen, wie diese Rotzbengel mit seiner Geldbörse verschwanden, doch hatte er sich in Venedig angewöhnt, nie mehr Geld bei sich zu tragen, als er entbehren konnte. Doch jetzt ging es um ein Buch, und das war etwas vollkommen anderes. Ein Buch, auch eins der kleinen, handlichen von Manutius mit Samtrücken, war unersetzlich, ja unantastbar. Man stahl keine Bücher.
Alessandro war es nicht gewohnt zu laufen, doch jetzt lief er. Er setzte dem Jungen nach, als wäre ein wildes Tier in ihm zum Leben erwacht. Gleichzeitig schrie er aus voller Kehle:
»Haltet den Dieb!«
Ein paar Männer, die im Kanal fischten, reagierten, aber alle kamen zu spät. Der Junge entwischte auch ihnen, als sie ihre Arme nach ihm ausstreckten, und war im nächsten Augenblick über die Brücke.
Da tauchten auf der anderen Seite zwei Gestalten auf. Ein groß gewachsener Mann mit dunklem Bart, der einen teuren, wenn auch etwas abgenutzten Umhang trug, und ein etwa elf- oder zwölfjähriger Junge. Als der Mann den Straßenjungen auf sich zurennen sah und Meister Alessandros lautes Rufen vernahm, stürzte er sich vor, packte den Dieb am Arm und entriss ihm das Buch. Der kleine Teufel wand sich ein paar Mal hin und her und kam schließlich frei. Der Mann aber blieb mit dem Buch in der Hand stehen. Auch wenn Meister Alessandro fand, dass der Junge sich allzu leicht aus der Umklammerung des Mannes, der sein Buch gerettet hatte, befreit hatte, dachte er nicht lange darüber nach, als er über die Brücke hastete, um ihm zu danken. In erster Linie zählte doch, dass das Buch wieder in sicheren Händen war.
»Ich nehme an, dieses Buch gehört Euch?«, sagte der Mann, als er über die Brücke kam. »Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ich bin Olav, der Barbier. Ich komme aus einem Land weit im Norden und bin ein Meister mit meinen Messern. Der Junge heißt Johannes. Er ist mein Begleiter. Und wem habe ich die Ehre, an diesem schönen, klaren Morgen geholfen zu haben?«
»Alessandro«, antwortete der Arzt neugierig. »Sagt mir, Olav Barbier, die Ihr Euren Bart offensichtlich wachsen lasst, schneidet Ihr auch anderes als nur Haare?«
»Oh, ich wende meine Messer auf ganz vielfältige Weise an«, antwortete der Barbier.
Teil 2
Palimpsest
»Das Zentrum des Universums ist überall und sein Umkreis nirgends.«
Pater Johannes, ca. 1550
13
Trondheim, September 2010
J eden Morgen fühlte er sich, als wache er nach der Operation auf.Am Anfang war alles nur Nebel. Ein zähflüssiges Meer aus weißer Stille, eine Todeslandschaft. Dann begannen sich Konturen abzuzeichnen. Die ausgeschaltete Deckenlampe mit dem geblümten Schirm, das Nachtschränk chen mit dem Stapel Fachzeitschriften und dem Sachbuch von einem schwedischen Polizisten, auf dem sein Handy lag. Odd Singsaker hasste es wie alles, wovon er abhängig war.Aber wenn es wie jetzt ruhig und still dalag, störte es ihn nicht sonderlich.
Vor dem Gehirntumor hatte er seine Tage in der Regel mit einem Glas Aquavit begonnen. Rød Aalborg, Zimmertemperatur, damit das Kümmelaroma sich richtig entfalten kann. Nach der Operation und der Genesung hatte er seine Dosis auf zwei Gläser erhöht, und wie gewohnt genoss er den Aquavit auf dänische Weise mit Roggenbrot und Hering. Für Singsaker war nur das der richtige Start in seinen Tag.Wasser des Lebens und Silber des Meeres. Das Gesündeste daran war sicher, dass er nach einem solchen Frühstück keine andere Wahl hatte, als zur Arbeit zu gehen.
An dem Tag, an dem er seine Arbeit als Hauptkommissar der Trondheimer Polizei wieder aufnehmen sollte, war die Aquavitflasche leer, das Roggenbrot trocken und die He ringsreste am Boden des Glases waren glanzlos und fahl. Wäre er noch immer krankgeschrieben gewesen, hätte er Zeit zum Einkaufen gehabt; so musste er den Tag mit leerem Magen beginnen. Kein guter Start für einen Tag, der mit einer jähen Bruchlandung in der Wirklichkeit aufwarten sollte.
Auf dem Weg aus der Tür sah er den Nachbarn, der schräg gegenüber wohnte. Er sah ziemlich ungepflegt aus und radelte auf einem
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