Buch des Todes
sehr teuren, aber heruntergekommenen Cervelo-Rennrad aus der Einfahrt seines Hauses.Wie kann man ein derart teures Fahrrad nur so verkommen lassen?, fragte er sich. Irgendetwas musste seinem Nachbarn zugestoßen sein, eine Krise, ein Schicksalsschlag, etwas, das dazu geführt hat, dass ihm Dinge, die ihm einmal wichtig waren, jetzt so gleichgültig waren.
Odd Singsaker erkannte ihn nicht, obgleich er ihn schon mal getroffen hatte.Aber diese Begegnung lag weit vor dem Hirntumor und dem daraus resultierenden schlechten Gedächtnis. Der Nachbar warf auch keinen Blick in seine Richtung, sondern radelte gedankenverloren in Richtung Asylbakken.
Auf der kurzen Strecke von seiner Wohnung zur Bakkegate ging Singsaker an einem weiteren Nachbarn vorbei, der seinen Wagen in der Herbstsonne wusch, Jens Dahle. Dahle war im Grunde der Einzige im Viertel, mit dem er redete, wobei auch sie nie wirklich persönliche Gespräche geführt hatten. Mehr als Small Talk war das nicht gewesen. Er hatte ihm zum Beispiel nicht erzählt, dass er frisch geschieden war und seine Frau, die er sein Leben lang als seine bessere Hälfte betrachtet hatte, ihm zwei Wochen vor seiner Krebsoperation gesagt hatte, sie habe einen anderen. Eine Operation, bei der sein Leben auf Messers Schneide gestanden hatte und sein Ableben ebenso wahrscheinlich gewesen war wie die Möglichkeit, den Tumor vollumfänglich zu entfernen.
Anikken hatte ihm mitgeteilt, dass sie schon längere Zeit ein Verhältnis mit einem Maurer aus Klæbu habe und die Geheimniskrämerei leid sei. Er verstand sie, wie immer. Der Hirntumor hatte ganz unterschwellig und unbemerkt seit zwei Jahren seine Persönlichkeit beeinflusst. Mag sein, dass er nicht allein dafür verantwortlich war, dass Singsaker ein so mürrischer Mensch geworden war, mit dem sich das Zusammenleben alles andere als einfach gestaltete.Wenn er daran dachte, wie er sich ihr gegenüber mitunter aufgeführt hatte, war es ein Wunder, dass sie ihn nicht schon viel früher verlassen hatte. Stattdessen hatte sie sich einen Liebhaber zugelegt, einen Maurer, und Odd Singsaker wusste besser als jeder andere, dass sie jede seiner mörtelklammen Liebkosungen voll und ganz verdient hatte.
Anikken hatte nicht vor, ihn zu verlassen, sondern sich von dem Maurer getrennt. Sie wollte, wie sie sagte, ihre Ehe retten. Die etwas brüchige Logik dahinter war wohl, dass sie glaubte, durch ihre Ehrlichkeit der ehelichen Krebsgeschwulst Einhalt zu gebieten, um dann – gemeinsam – auch den wirklichen Krebs besiegen zu können, der in seinem Hirn wuchs. Und irgendwann, in gar nicht ferner Zukunft, würden sie es dann auch wieder gut miteinander haben. Er glaubte nicht daran, dass sie ihn retten konnte. Genauso wenig, dass sie irgendeine Schuld an den Geschehnissen traf. Er war von Anfang an überzeugt gewesen, dass die Geschwulst in seinem Kopf das Symptom wild wuchernder Zellen war und nichts sonst. Sie waren weder durch Unehrlichkeit noch eine schlechte Ehe entstanden und auch durch eine gute nicht mehr zu kurieren. Obgleich er nachvollziehen konnte, warum Anikken untreu gewesen war und ihr das halbwegs sogar verzeihen konnte, gelang es ihm nicht, mit diesem Geständnis umzugehen. Es verhalf ihm lediglich zu einer Erkenntnis, die sich schleichend und langsam genähert hatte, seit er vor Monaten die Diagnose erhalten hatte. Seine Kopfschmerzen konnte er nur allein in den Griff bekommen. Er musste seine Kräfte dort einsetzen, wo sie am meisten gebraucht wurden. Er musste ausziehen und für sich allein sein.
So war es dann auch gekommen. Doch jetzt, nach der gelungenen Operation, war er sich ziemlich unsicher, ob das wirklich eine Rolle gespielt hatte. Der Tumor war ihm von einem Chirurgen aus dem Kopf geschnitten worden, dessen Hände nicht zitterten.
Anikken hatte ihn nach der Operation mehrmals besucht. Sie hatte ihm Tee und Blumen mitgebracht, und beim letzten Mal einen Aquavit, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie fest an seine baldige Entlassung glaubte.
Jens Dahle wusste von alldem nichts. Mit ihm unterhielt Odd Singsaker sich über Fußball, das Wetter oder das richtige Mittel zum Autowaschen. Das letzte Thema schien Dahle besonders zu interessieren, jedenfalls wusch er sein Auto mindestens einmal pro Woche und ging dabei ausgesucht gründlich zu Werke. Er konnte Stunden oder gar ganze Nachmittage darauf verwenden.Als Polizist wusste Singsaker, dass gewisse Gewohnheiten, wie der Autowaschzwang seines Nachbarn, oft mehr über einen
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