Buch des Todes
falsche Fährte war und ganz sicher keine Sackgasse. Es war zentraler Teil der Ermittlungen. Die Analyse hatte ergeben, dass das Leder von einem Menschen stammte und etwa fünfhundert Jahre alt war.
12
Trondheim, 1528
D er Bettelmönch hatte die Stadt erreicht, in der er geboren war. Es dauerte nicht lange, bis er herausgefunden hatte, dass seine Mutter nicht mehr lebte. Dabei erfuhr er auch, dass der Schmied ihr eine Grabstätte auf dem Friedhof beim Hospital besorgt hatte.
Ihr Grab war nicht gekennzeichnet wie die Gräber der reichen Leute, aber wenigstens lag sie in geweihter Erde. Der Mönch kam an einem regnerischen Nachmittag auf den Friedhof und stand fast eine Stunde lang still da.Als Kind hatte er sich oft gefragt, warum sie ihn hatte gehen lassen. Heute stellte er sich diese Frage nicht mehr, trotzdem hätte er sie gerne noch ein letztes Mal wiedergesehen.
Als er den Friedhof verließ, beschloss er, den Erzbischof aufzusuchen. Er wollte sich in diesem Land niederlassen. Dieser Entschluss erfüllte ihn mit Ruhe, und seine Gedanken schweiften zurück in jene Zeit, als er zum letzten Mal durch die schlammigen Straßen und Gassen Trondheims gelaufen war.
Venedig, 1516
Vor drei Tagen hatten sie die Stadt erreicht, die auf dem Wasser schwamm, und eine Herberge gefunden, in der sie sich ein Bett teilten. Zwei Jahre waren vergangen, seit sie die Kälte des Nordens verlassen hatten. Irgendwo in Deutschland hatte der Barbier einen Sommer lang als Henker gearbeitet, Mörder enthauptet und Hexen ersäuft.Ansonsten waren sie aufWanderschaft gewesen und hatten dabei langsam das Geld aufgebraucht, das der Barbier gespart hatte.
Das Glück, das sie suchten, hatten sie noch nicht gefunden. Der Barbier hatte aber versprochen, dass es in Venedig auf sie wartete. Das sei die größte Stadt der Welt, hatte er gesagt, doch dem Jungen war zu Ohren gekommen, dass es in den Ländern, mit denen diese Stadt Handel trieb, noch viel größere Städte geben sollte.
Der Barbier hatte dem Jungen sogar das Haus gezeigt, in dem Frau Fortuna residierte, wenn auch in Gestalt eines Mannes. Es lag an einem ruhigen Kanal unweit des Markusplatzes, auf dem der enorme Glockenturm stand. Dort wohnte Meister Alessandro. Es hieß, er habe alle Länder des Mittelmeeres bereist und von überall her Bücher mitgebracht.Auf der Ritterinsel Rhodos und bei den Ungläubigen weiter im Osten sollte er wahre Schätze gefunden haben. Man munkelte, er habe eine der größten Sammlungen der Kunstwerke der alten Meister zusammengetragen. Es wurde sogar behauptet, der berühmte Drucker Teobaldo Manucci, auch bekannt unter seinem lateinischen Namen Aldus Manutius, stünde in der Schuld Meister Allessandros. Teobaldos ungewöhnliche Drucke griechischer und römischer Werke enthielten viel Stoff aus Meister Alessandros reichhaltiger Bibliothek, was Teobaldos Ehre für die Erfindung des ungewöhnlich kleinen Buchformates, das ein Leser leicht unter den Arm klemmen konnte, allerdings keinen Abbruch tat.
Aber weder wegen der Bücher noch wegen Allessandros Ruf als Sammler suchte der Barbier die Nähe des berühmten Arztes. Meister Alessandro war nämlich darüber hinaus noch für eine andere Sache bekannt: Er öffnete Leichname. Und die Gerüchte besagten, dass er in diesen Leichen Dinge sah, die noch niemand zuvor gesehen hatte.
Der Plan des Barbiers allerdings betraf eines von Teobaldos berühmten Büchern, wohlgemerkt kein bestimmtes Buch, sondern dasjenige, das Meister Alessandro auf seinem täglichen Morgenspaziergang mitnehmen würde.
Denn noch vor Sonnenaufgang und dem ersten verwirrten Hahnenschrei, während der Barbier und der Junge noch im Bett der Herberge lagen, wussten sie, dass der Arzt wie an jedem Tag bei seinem üblichen Morgenspaziergang ein Buch mit sich tragen würde. Sie hatten ihn beobachtet und von den Bewohnern im Viertel bestätigt bekommen, dass er jeden Tag nach dem Frühstück die immer gleiche Runde unternahm und dabei ein Buch mit sich führte. Eines der Marktweiber, das an der Ecke des Hauses, in dem er wohnte, unweit einer Brücke Gemüse verkaufte, behauptete, dieses Buch ruhe gleichsam in seinen behutsamen Fingern, als ginge er Hand in Hand mit einem jungen Mädchen.
Der Barbier hatte bereits einen Straßenjungen für diesen Auftrag auserkoren. Seinen eigenen Jungen konnte er nicht schicken, denn der sollte weiter bei ihm bleiben. Sie waren durch ein unsichtbares Band verbunden, das man nicht so ohne Weiteres zerreißen
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