Buch des Todes
dieser Welt gehörten, dass sie in uns allen waren und uns auf eine Weise Leben gaben, die wir noch nicht verstanden.
»Der Mensch muss zuerst einmal die Schöpfung verstehen. Nur so können wir uns selbst verstehen«, sagte der Barbier.Wenn er so redete, erkannte der Junge, welch ein Glück er gehabt hatte, von einem der klügsten Männer seiner Zeit gefunden worden zu sein. Er konnte viel von ihm lernen, und eines Tages würde auch er das alles zu Gesicht bekommen.Vielleicht würde er dann sogar mehr verstehen, als in den Büchern stand. Jedenfalls hatte der Barbier gesagt, dass sie Meister Alessandro aufsuchen wollten, weil dieser Arzt den Gerüchten zufolge mehr wusste als alle Bücher.Außerhalb Venedigs konnte so ein Gerücht äußerst gefährlich sein, außer vielleicht in Padua mit der berühmten Schule und den vielen Ärzten. In Venedig und Padua war die Luft freier als an den meisten anderen Orten. Der Barbier erklärte, dass Sektionen hier gestattet waren, und dass jedes Jahr eine weib liche und eine männliche Leiche vom Galgen genommen wurden, damit die gelehrtesten Ärzte ihre Kenntnis über das Innere des Menschen erweitern konnten.Venedig hatte keine Angst vor der Rache des Papstes.
»Nun«, sagte der Barbier und steckte sich den letzten Rest Brot in den Mund, »ist es an der Zeit, aufzubrechen. Die Sonne hat die Hausdächer auf der anderen Seite des Kanals erreicht. In Kürze wird unser geschätzter Arzt zu seinem Morgenspaziergang aufbrechen. Diesen Spaziergang dürfen wir heute um keinen Preis verpassen.«
Der Straßenjunge traf sie wie besprochen an der Brücke, von der aus man die Tür von Meister Alessandros Haus auf der anderen Seite des Kanals sehen konnte. Der Plan war einfach: Sobald sie ihn aus der Tür treten sahen, sollte der Straßenjunge über die Brücke dem Arzt entgegenlaufen, während der Barbier und der Junge auf der anderen Seite des Kanals zur nächsten Brücke gingen. Dort würden sie sich hoffentlich wieder treffen und so dem Schicksal einen Stoß versetzen.
Meister Alessandro fuhr langsam und zärtlich mit dem Zeigefinger über den Rücken der Bücher, die auf dem kleinen Regal direkt hinter der Tür seiner Bibliothek standen. Die ses Regal war Teobaldos handlichen kleinen Büchern vorbehalten. Der Rest der Bibliothek war angefüllt mit Pergamentrollen und großen Werken, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte. Die Bücher von Manutius, wie Teobaldo von seinen gelehrten Freunden genannt wurde, hatte er als Gegenleistung dafür bekommen, dass er dem Buchdrucker seine Bibliothek geöffnet hatte, damit dieser sich Bücher ausleihen konnte, die er bearbeiten und neu herausgeben wollte.
Seine Gedanken schweiften zu dem Haus in Padua ab und zu der Leiche, die dort auf ihn wartete.Vorausgesetzt der Taugenichts Pietro hatte seine Arbeit auf dem Gräberfeld außerhalb der Stadt erledigt.Vertrauen konnte er darauf nicht. Er dachte schon lange darüber nach, Ersatz für seinen Diener Pietro zu suchen. Er machte viel zu viele Fehler, besonders wenn es darum ging, Leichen zu finden. Pietro gewöhnte sich nie an den Umgang mit Toten und vergaß mitunter sogar, sie festzubinden, sodass sie vom Wagen in den Graben fielen, manche hatten auf dem Transport sogar Gliedmaßen verloren. Oder er ließ sich von den Friedhofswachen abschrecken und kam nach einer Hinrichtung mit leeren Händen nach Hause.Auch mit dem Messer wusste er nicht umzugehen und war bei den Sektionen keine wirkliche Hilfe.
Meister Alessandro klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ die Bibliothek.An der Haustür legte er das Buch kurz auf dem kleinen Tischchen ab und warf sich den weiten, burgunderroten Umhang über die Schultern, den er vor zwei Wochen erstanden hatte und der jetzt im Herbst so wunderbar wärmte. Dann nahm er das Buch und machte sich auf den Weg.
Obgleich die Sonne schien, blies der Wind kalt vom Meer herüber und ging durch Mark und Bein. Meister Alessandro grüßte die Gemüsefrau und fragte sie, ob es nachts bereits fröre. Sie sagte, dass es noch keinen Nachtfrost gegeben habe, sodass sie in diesem Jahr mit etwas Glück die ganze Ernte einbringen konnten.Alessandro wünschte ihr Glück und versprach, ihr beim nächsten Mal ein paar Steckrüben abzukaufen.
Er nahm den üblichen Weg entlang des Kanals, der ihn später über die Brücke und weiter zum Markusplatz führte, wenn er denn so weit ging. Doch noch bevor er die Brücke erreichte, geschah es. Ein Straßenjunge, er reichte kaum bis
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