Buch des Todes
egal ist.Wo wären wir heute, hätten nicht Menschen wie Alessandro Benedetti damals das Innere von Leichen studiert?«
»Und was ist mit dem Messer? Interessieren Sie sich auch dafür?«, fragte er.
»Eigentlich benutze ich ausschließlich das Brotmesser.Aber dieses Ding, das Sie da in der Hand halten, ist eine Art Lebensversicherung für mich.«
»Wie können Sie wissen, dass es echt ist?«
»Mama hat es bei einem der renommiertesten Antiquitätenhändler in San Maurizio in Venedig gekauft. Es gibt ein Zertifikat. Sie hat die Hälfte ihres väterlichen Erbes dafür investiert, und das war keine kleine Summe.Außerdem habe ich es von einem Experten in Oslo schätzen lassen.Wenn es nicht Benedetti gehört hat, dann einem anderen Anatomen oder Chirurgen seiner Zeit, der in Venedig oder Padua gelebt hat.Auf den Wert hat das relativ wenig Einfluss.Aber mir gefällt der Gedanke, dass mit diesem Messer vor fünfhundert Jahren vielleicht die Nase irgendeines Venezianers korrigiert wurde. Das ist für mich Beweis genug, dass die Entwicklung doch nicht so schnell vorangeht, wie wir es uns manchmal wünschen würden.«
Während sie sich unterhielten, begann sie vollkommen ungeniert, sich mit dem Handtuch abzutrocknen, bevor sie es auf ein Sofa warf, das überfüllt war mit einem Sammelsurium aus schmutzigen Tellern, Wollknäueln und einer alten Nähmaschine. Splitternackt streckte sie ihre Hand nach dem Taekwondo-Anzug aus, der auf einer mitten im Raum stehenden Mannequinpuppe hing. Singsaker wandte sich der Aussicht auf den Fjord zu und beobachtete ein Segelboot, das langsam an Munkholmen vorbeiglitt, während sie sich, wie er hören konnte, anzog.
»So, jetzt können Sie sich wieder umdrehen«, sagte sie.
Er sah ihr zu, wie sie sich einen schwarzen Gürtel um die Hüfte band. Einen Moment lang erwog er, etwas dazu zu sagen, doch dann ließ er es bleiben.
»Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen zu dem Mord in der Bibliothek stellen«, sagte er.
»Das kann ich mir denken«, sagte sie, nahm ein paar dreckige Teller vom Sofa und setzte sich. Dann stellte sie die Nähmaschine auf den Boden, dass auch er sich setzen konnte. Er blieb stehen.
»Haben Sie Zeit, auf meine Fragen zu antworten, bevor Sie zum Sport müssen?«
»Natürlich – so eilig habe ich es nicht.«
»Sie waren dabei, als die Leiche gefunden wurde?«
»Ja, Jon und ich haben sie gefunden.«
»Wie haben Sie die Situation erlebt?«, fragte Singsaker.
»Es war ein schrecklicher Anblick. Ich war den ganzen Samstagvormittag mit Gunn Brita zusammen und habe sie dabei ziemlich gut kennengelernt. Sie war nett, ein bisschen streng vielleicht. Ordentlich, wie man es von einer Bibliothekarin erwartet. Ich kann es nicht fassen, dass jemand ihr das angetan hat. Und dann auch noch an diesem Ort.«
»Sie waren mit Jon Vatten zusammen dort.Was sagen Sie zu seiner Reaktion?«
»Ich weiß, dass Sie ihn verdächtigen.Aber da irren Sie sich, fürchte ich«, sagte Siri Holm, als stelle sie eine weithin bekannte Tatsache fest.
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«, hakte er nach.
»Ich weiß es einfach«, sagte sie. »So wie ich weiß, dass Sie geschieden sind, gerade eine ernste Krise hinter sich haben und nur so getan haben, als hätte es Sie kaltgelassen, mich nackt zu sehen.«
Er sah sie an und versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Aber war das wirklich eine Überraschung? Siri Holm war nicht die Einzige im Raum mit einer gewissen Menschenkenntnis. Bereits bei ihrer ersten Begegnung in der Bibliothek hatte er gewusst, dass diese Frau ganz speziell war.
»Wissen fußt immer auf irgendetwas«, sagte er. »Wenn nicht, ist es nur ein Tipp, und in Ihrem Fall ein bisschen Glück.«
»Lesen Sie Krimis?«, fragte sie.
»Lesen Ärzte Arztromane?«
»Würden Sie Krimis lesen, wüssten Sie, dass es eigentlich nur zwei Arten von Ermittlern gibt«, sagte sie. »Den rationalen, systematischen, der Beweise sammelt und die Lösung in der Summe aller Spuren im jeweiligen Fall findet. Und den unsystematischen, der seiner Intuition folgt und häufig auf der Jagd nach der einen entscheidenden Spur ist. Die meisten Ermittler sind vermutlich eine Mischung von beiden. Der entscheidende Punkt ist, dass der systematische und der unsystematische Ermittler eigentlich das Gleiche tun. Sie werten die Beweise aus.Aber einige Ermittler denken und assoziieren rascher als andere. Denken Sie an Sherlock Holmes.Was wie überlegene Intuition wirkt, ist eigentlich nichts anderes
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