Buch des Todes
sie gerade im Ly rikunterricht durchgenommen hatten. Jedes Jahr im Mai, zur Kirschblüte, versammelte er seine Freunde unter den Bäumen, wo sie lange Kettengedichte, sogenannte renga , schrieben. Das eine Haiku begann, wo das andere aufhörte, wobei sich alle Teilnehmer an die strenge Renga-Form halten mussten. Trotzdem kam es darauf an, nicht nachzudenken, keine großen Bilder zu entwerfen, sondern über die flüchtigen Eindrücke des Augenblickes zu schreiben. Eine einzige, lange Improvisation.Wie Jazz mit Worten.
»Der alte Weiher: Ein Frosch springt hinein. Oh! Das Geräusch des Wassers«, sagte Felicia unvermittelt.
Susan sah sie an und begann, stoned, wie sie war, sofort zu kichern. Holly, die gemeinsam mit Felicia in die Lyrikstunde ging, erkannte die Worte.
»Haiku«, sagte sie.
»Basho«, präzisierte Felicia.
»Haiku ist gut, Felicia. Schmeiß alle Gedanken aus deinem Kopf und lass die Dinge einfach auf dich zukommen. Lass den Frosch springen.« Holly lächelte.
»Aber was ist mit dem Geräusch des Wassers? Was dachte der Frosch darüber?«, fragte Felicia, mehr an die Kirschbäume gerichtet als an Holly.
Felicia musste Shaun nicht gegen seinen Willen abschleppen. Sie fand ihn mit einem Bier in der Hand bei den Jungs des Soccer-Clubs.Wer europäischen Fußball spielte, fuhr VW oder BMW, abhängig von den finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern. Sie trugen Segelschuhe und Polohemden und hörten die Musik von abgefahrenen britischen Bands wie The Smith . Shaun verachtete alles, was vulgär oder auch nur ansatzweise redneck war. Dabei galt er selbst bei etlichen Leu ten als leicht vulgär oder zumindest selbstbeweihräuchernd, aber er hatte Humor. Und er ging in die Lyrikstunde, die auch Felicia belegt hatte, und äußerte sich dort durchaus überlegt und intelligent. Im Moment zählte aber in erster Linie, dass er nett aussah.Als er Felicia erblickte, ließ er seine Freunde stehen und kam auf sie zu.
»He, wie geht’s meinem Date?«
»Ganz gut«, sagte Felicia mit einem Tonfall, der ihm signalisieren sollte, dass sie sich woanders sicher noch besser fühlen würde. Shaun schnappte die Botschaft auf. Er war sensibel für subtile Andeutungen dieser Art.
»Eigentlich ist die Party ja ziemlich lahm.Was sagst du zu einer Runde mit meinem Auto?«
»Hast du nicht zu viel getrunken?« Shaun kippte den Rest der Flasche aus und ließ sie ins Gras fallen.
»Nur ein oder zwei Flaschen«, sagte er.
Felicia lachte.
»Wenn du vorsichtig fährst. Ich habe keine Lust, heute Nacht noch meinem Vater zu begegnen«, sagte sie.
»Ich fahre immer vorsichtig, weißt du«, sagte Shaun.
Zuerst fuhren sie ein ganzes Stück am Fluss entlang aus der Stadt raus. Shaun fuhr einen BWM, wenn auch ein älteres Modell. Seine Eltern wollten ihn wohl nicht so sehr verwöhnen, wie es ihnen finanziell möglich gewesen wäre. Sie hielten an einem verlassenen Ort unter einer Eisenbahnbrücke. Unterhalb der Böschung glitzerte dunkel der James River. Kaum stand das Auto, fingen sie an zu knutschen. Shauns Finger glitten fast unmittelbar zu ihren Brüsten, und sie ließ ihn gewähren.Als seine Hand sich aber weiter nach unten bewegte, schob sie sie zur Seite. Er ließ sich nicht aufhalten, und als er erneut versuchte, zwischen ihre Schenkel und unter ihren kurzen Rock zu kommen, riss sie sich von ihm los.
»Ich will ja auch, aber nicht im Auto«, sagte Felicia. Sie sah ihm an, wie erregt er war, als er seinen Hemdkragen zurechtzog, den sie noch kurz zuvor recht fest umklammert hatte. Plötzlich war sie sich nicht mehr ganz so sicher, wie nett er wirklich aussah.
»Okay«, sagte er. »Dann fahren wir zu mir. Meine Eltern sind im Ferienhaus in Hopewell, die kommen erst morgen wieder.«
Sie spürte ein Ziehen in der Brust und hörte den Fluss unter sich mit einer leisen, traurigen Melodie vorbeiziehen. Trotzdem hatte sie auf seltsame Weise noch immer Lust auf ihn.
Shaun fuhr langsam über die kurvige Straße zurück in Richtung Stadt. Nur das Licht der Scheinwerfer erhellte das Dunkel der Nacht, und es sah beinahe so aus, als zögen die Lichtkegel sie hinter sich her. Im Radio sang Chris Isaak sein hypnotisierendes »Wicked Games«.Als sie sich den ersten Häusern näherten und der Song mit den deprimierenden Worten »Nobody loves no one«, verklang, wurde Felicia sich bewusst, dass sie das, was im Begriff war zu geschehen, nicht mehr unter Kontrolle hatte. Sie hätte Shaun in diesem Moment bitten sollen, sie nach Hause zu
Weitere Kostenlose Bücher