Buch des Todes
seiner Musik unterhielt.
Sie parkte auf dem Platz unten am See und folgte dem Weg vorbei am Glockenturm bis zur Bibliothek. Im zweiten Stock fand sie das Büro von Nevins dem Älteren. Sie klopfte an und wurde von einer tiefen Bassstimme hereingebeten.
Das Büro von Nevins ließ gleich erkennen, dass er Bücher ebenso als Statussymbole nutzte wie als Quelle des Wissens.Alle Wände waren vom Boden bis unter die Decke mit Bücherregalen zugestellt. Nevins selbst stand vor seinem ausladenden, schweren Schreibtisch und streckte ihr die Hand entgegen. Zu ihrer großen Überraschung sah er freundlich aus. Er trug ein legeres, kurzärmeliges Hemd und eine beige Freizeithose. Seine Haare waren grau, aber noch immer dicht. Die Falten auf der Stirn und die Tränensäcke unter den Augen ließen ihn friedlich, fast großväterlich wirken. Es war nur schwerlich vorstellbar, dass dieser Mann mit einem Brecheisen auf jemanden losging oder ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzog. Sie gab ihm die Hand und registrierte, dass der Händedruck genau die richtige Stärke hatte. Soweit sie dazu in der Lage war, hatte sie einen guten ersten Eindruck von ihm.
Nevins war zuvor von Reynolds befragt worden, was ihr die Formalitäten ersparte. Felicia Stone hatte überdies angerufen und ihm mitgeteilt, worüber sie mit ihm reden wollte.
»Das Byron-Buch von Poe, ja, das ist wirklich ein kleines Mysterium. Niemand weiß genau, wie er in den Besitz dieses Buches gelangt ist. Es ist natürlich ein absolutes Kleinod. Eine Erstausgabe von Childe Harold’s Pilgrimage ist an sich ja schon eine Besonderheit.Aber in diesem Buch finden sich noch ein paar andere Besonderheiten. Zum einen natürlich der Buchrücken. Ich hatte immer schon den Eindruck, dass er eine ganz besondere Qualität hat, allein schon die Farbe, dieses Grauweiß.Aber Menschenhaut? Das ist ja schrecklich.Wir haben erst vor einigen Monaten entdeckt, dass der Einband aller Wahrscheinlichkeit nach ein Palimpsest ist.«
»Das heißt, dass die Haut bereits früher beschrieben war?«, fragte sie, stolz über ihr neu angeeignetes Wissen, zugleich aber auch irritiert über ihren offensichtlichen Drang, Shaun Nevins’ Vater etwas zu beweisen.
»Richtig«, sagte Nevins beeindruckt. »Haben Sie ihn dabei?«
Sie öffnete die Tasche, die sie über der Schulter trug, und nahm eine durchsichtige Hülle mit dem Buchrücken heraus.Auch das Buch legte sie auf Nevins’ Schreibtisch.
»Darf ich?«, fragte er höflich und nahm die Hülle hoch, um den Buchrücken herauszunehmen.
»Haben Sie Handschuhe?«
»Natürlich, die gehören zur Grundausstattung eines Konservators«, sagte er lächelnd und nahm ein paar weiße Seidenhandschuhe aus seiner Schreibtischschublade. Er zog sie an und nahm den Buchrücken aus der Hülle.
»Kommen Sie her«, sagte er und trat an einen hohen weißen Tisch, der in der Ecke des Raumes stand. Er legte den Einband darauf und strich ihn glatt. Dann schaltete er die Arbeitslampe über dem Tisch ein und nahm eine Lupe. Er hielt sie über das Leder und ließ sie einen Blick darauf werfen. Einzelne Buchstaben waren wie Abdrücke in der Haut zu erkennen. Aber sie konnte nicht entziffern, was dort stand.
»Das ist Latein«, sagte Nevins. »Leider hat dieser Palimpsest noch nicht das große Interesse unter den Wissenschaftlern geweckt; bis jetzt hat sich jedenfalls noch niemand die Mühe gemacht, ihn systematisch zu analysieren.Vermutlich aus dem Grund, dass er bisher als Rarität in der Poe-Sammlung und nicht als mögliche historische Quelle angesehen wurde.«
»Ist es denn möglich, ihn zu analysieren?«
»Ja, natürlich. Es gibt verschiedene Techniken, um diese Art von Texten wieder sichtbar zu machen, zum Beispiel Röntgenstrahlen oder Fotografien in bestimmten Lichtspektren, um die Kontraste der ausgewaschenen Tusche zu verstärken. Mithilfe solcher Techniken hat man es an der Johns-Hopkins-Universität geschafft, vier Fünftel des verborgenen Textes vom berühmten Archimedes-Palimpsest zu entziffern. Der Untertext erwies sich am Ende tatsächlich als ein bis dahin unbekannter Text des griechischen Wissenschaftlers Archimedes.«
»Der mit Eureka?«
»Genau.Wussten Sie übrigens, dass Eureka auch der Titel von Edgar Allan Poes einzigem wissenschaftlichen Werk ist?«
»Nein.«
»Das hat natürlich nichts mit dem Fall zu tun, ist aber ein typisches Beispiel für das, was man in der Literaturwissenschaft als Transtextualität bezeichnet. Dass sich Texte von Werk zu
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