Buch des Todes
jedes Mal, wenn sie kam, aber sie hatte es nie mehr gewagt, dort runterzugehen.
Sie atmete tief durch und ging langsam zur Kellertür, öffnete sie und stieg die Treppe nach unten. Der Geruch war unverändert muffig und feucht. Sie ging ruhig über den Kellerflur bis zu dem Raum, in dem sie und ihre Freundinnen früher einmal den Geheimclub gehabt hatten. Sie war nicht einmal überrascht, als sie die kindlichen Buchstaben noch immer an der Tür stehen sah.Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ein. Es war alles unverändert. Sogar die Kerze stand noch auf dem Tisch. Schockiert sah sie, dass dort sogar noch das Glas stand, aus dem sie immer getrunken hatte. Niemand ist seither hier gewesen, dachte sie. Dabei wusste sie, dass das nicht stimmen konnte. Die leeren Flaschen, die Pillengläser und die Spritze waren weg. Jemand hatte entfernt, was entfernt werden musste, den Raum ansonsten aber unberührt belassen.
Sie sah sich um und dachte zu ihrer eigenen Überraschung an die Zeit, in der sie hier ihren Club gehabt hatten.Am besten erinnerte sie sich an das Anmalen der Wände, an die lebhaften Diskussionen, die sie zuvor über mögliche Motive gehabt hatten, und an ihre hochtrabenden Pläne für den Club.An das, was sie tatsächlich hier unten gemacht hatten, als der Raum fertig gewesen war, erinnerte sie sich hingegen kaum noch. Das Wesentliche waren die Pläne gewesen. Und ihre Träume. Die Idee, mit ihren drei Freundinnen ganz allein zu sein, ohne Erwachsene. Einen Ort zu haben, an dem nur sie bestimmten. Uneingeschränkte Freiheit in einem kleinen, abgeschlossenen Raum.
Sie legte sich auf das Sofa. Hier hatte sie einen ganzen Sommer gelegen, bis sie eines Tages fast an einer Überdosis gestorben wäre. Dabei liegt man hier nicht mal wirklich gut, dachte sie, stand wieder auf und zog die muffige Luft tief in ihre Lungen. Die Lust auf einen Drink war verschwunden.
Sie ging vom Keller nach oben in die Wohnung ihresVaters und schloss die Tür auf, ohne anzuklopfen. Ihr Vater lag dösend auf dem Sofa.
»So, so, genießt du deinen Ruhestand und lässt dich richtig gehen?«, rief sie mit lauter Stimme.
Er öffnete die Augen und sah sie an. Dann stand er auf und begann, den Tisch abzuräumen. Eine leere Flasche Bier verschwand zwischen zusammengerollten Zeitungen, und er nahm alles mit in die Küche.Als er zurückkam, sagte er:
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dich in den nächsten Wochen zu sehen. Bei dem schrecklichen Fall, den ihr da habt.«
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte sie, froh darüber, dass ihr Vater noch immer verfolgte, was bei der Polizei vor sich ging. In letzter Zeit hatte sie öfter über ihren Altersunterschied nachdenken müssen. Ihr Vater war über vierzig gewesen, als sie geboren wurde.Als sie zur Schule ging und er zur Arbeit, war ihr das ganz normal erschienen. Jetzt kamen ihr die Jahre, die zwischen ihnen lagen, unendlich vor, als wäre ihr Vater plötzlich zu ihrem Großvater geworden. Sie wusste nicht, wie lange er ihr noch erhalten bleiben würde, und hatte Angst davor, seinen klaren Kopf zu verlieren.
»Ich bin aber nicht gekommen, um über den Fall zu reden.«
Ihr Vater schien enttäuscht zu sein, was sie richtiggehend freute. Der Polizist in ihm war also noch aktiv.
Sie setzte sich in den Sessel, auf dem er immer saß, wenn er Sport sah. Baseball. Nur dafür schaltete er den Fernseher ein.
»Ich bin gekommen, um mit dir über damals zu reden«, sagte sie.
Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht.War das Überraschung, Angst oder Erleichterung?
Sie selbst fühlte Letzteres. Sie hatte lange darauf gewartet, diese Worte endlich auszusprechen, und sie war sich im Klaren darüber, dass sie nicht zu lange warten durfte. IhrVater wurde nicht jünger.
Er blieb eine Weile still sitzen. Dann tat er etwas, das sie überraschte.Vielleicht sie beide. Er stand auf, ging in die Küche und machte sich ein Bier auf. Das hatte er seit jenem Sommer nie mehr getan, wenn sie dabei war. Er kam zurück ins Wohnzimmer und stellte die Flasche auf den Couchtisch, nachdem er einen Schluck getrunken hatte.
»Ich glaube, du bist jetzt so weit, dass du das erträgst«, sagte er.
»Ja, das geht.Aber trink nicht zu viel«, sagte sie in dem mütterlichen Ton, den sie unfreiwillig angenommen hatte, seit ihr Vater allein lebte.
»Mach dir über mich keine Gedanken. Ich bin ein alter Mann und kann endlich tun, was ich will«, sagte er lachend. Dann begann er völlig unaufgefordert, zu
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