Buchanan - 06 - Schattentanz
bräuchte sich keine Sorgen zu machen, sie fühle sich nicht beleidigt. Da Isabel immer noch darüber nachgrübelte, wie sie am besten an die Kisten kommen sollte, überlegte sie kurz, ob sie ihre Hilfe anbieten sollte, besann sich jedoch eines Besseren. Zwar hatte sie Zeit und hätte eigentlich auch gern mehr von diesem Unsinn gelesen, aber dann wäre sie der Gesellschaft des Professors ausgesetzt gewesen. Nein, vielen Dank, dachte sie, nichts war es wert, auch nur noch eine Stunde mit diesem Mann zu verbringen.
»Warum runzelst du die Stirn?«
Ihr Bruder Nick trat zu ihr.
»Ich runzele nicht die Stirn, ich blinzele. Noah hat meine Brille. Siehst du ihn?«
»Ja. Er steht direkt vor dir.«
Jordan kniff die Augen zusammen, und dann sah sie ihn. »Sieh dir nur an, wie all diese albernen Frauen hinter deinem Partner herhecheln. Das ist widerwärtig.«
»Findest du?«
»Ja«, erwiderte sie. »Du musst mir etwas versprechen.«
»Ja?«
»Sollte ich mich jemals so benehmen, musst du mich erschießen.«
»Gerne«, erwiderte Nick lachend.
Noah löste sich von seinem Fanclub und kam zu ihnen.
»Was ist so lustig?«
»Jordan will, dass ich sie erschieße.«
Noah blickte sie an, und für ein oder zwei Sekunden hatte sie seine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Das mache ich schon«, bot er an.
Sie fand, er klang entschieden zu bereitwillig. Gerade wollte sie den beiden Männern den Rücken zuwenden, als sie sah, dass Dan Robbins auf sie zukam. Zumindest glaubte sie das, weil sie ohne ihre Brille alles nur verschwommen wahrnahm. Sie hatte früher am Abend mit Dan getanzt, und ganz gleich, welche Musik gespielt wurde, Dan tanzte immer seine eigene Schrittfolge darauf, die einer verkrampften Polka glich. Das brauchte sie jetzt wahrhaftig nicht. Rasch änderte sie ihre Taktik und trat näher an Noah heran und lächelte ihn an. Die Strategie schien zu funktionieren. Dan zögerte und trat den Rückzug an.
»Willst du nicht wissen, warum ich sie erschießen soll?«, fragte Nick.
»Ich weiß es schon«, erwiderte Noah. »Sie langweilt sich.«
Sie fasste in seine Jackentasche und holte ihr Brillenetui heraus. Rasch setzte sie die Brille auf die Nase.
»Ich langweile mich gar nicht.«
»Doch, das tust du«, sagte Noah.
Während er redete, blickte er über ihren Kopf hinweg. Wahrscheinlich machte er das absichtlich, um sie zu ärgern.
»Er hat recht«, warf Nick ein. »Du musst dich langweilen. Du hattest doch nur dein Unternehmen, und da du alles verkauft hast …«
»Nur weil ich mich nicht so verhalte wie ihr beide, brauche ich noch lange nicht gelangweilt oder unglücklich zu sein. Ich bin sehr mit meinen Freunden und Bekannten beschäftigt.«
Noah unterbrach sie. »Ich glaube, auf dem Friedhof ist mehr los.«
Nick stimmte ihm zu. »Na, viel Spaß hast du nicht gerade, oder?«
»Doch, sicher. Ich lese gerne, und …«
Die beiden grinsten sie an. Nick sagte: »Ach, du schätzt also ein gutes Buch. Was hast du denn zuletzt gelesen?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich lese viele Bücher.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Noah fröhlich. »Als Nick und ich vom Angeln gekommen sind, hast du auf der Terrasse gesessen und das komplette Werk von Stephen Hawking durchgearbeitet.«
»Es war äußerst fesselnd.« Die beiden Männer lachten sich kaputt. »Hört auf, euch über mich lustig zu machen und verschwindet. Beide!«
Dafür hätte sie sich einen besseren Zeitpunkt aussuchen können, denn kaum hatte sie den Satz beendet, näherte sich Dan schon wieder. Sofort packte sie Noah am Arm. Er wusste sicher, warum sie das tat – er hätte blind sein müssen, um Dan nicht zu bemerken –, aber er sagte nichts.
»Deine Schwester führt ein sehr eintöniges Leben«, stellte Noah fest.
Nick stimmte ihm zu. »Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas nur zum Spaß gemacht, Jordan?«, fragte er.
»Ich tue viele Dinge, die mir Spaß machen.«
»Na gut, ich will die Frage ein bisschen genauer formulieren. Wann hast du das letzte Mal etwas zum Spaß gemacht, das nichts mit Computern oder Software zu tun hatte?«
Jordan öffnete den Mund, um ihm zu antworten, machte ihn aber dann wieder zu. Ihr fiel gerade nichts ein, aber das lag sicherlich daran, dass die beiden sie so unter Druck setzten.
»Hast du jemals etwas Spontanes getan?«, fragte Noah.
»Wieso das denn?«, erwiderte sie.
Noah wandte sich zu Nick. »Meint sie das ernst?«
»Leider ja«, erwiderte Nick. »Bevor meine Schwester etwas anfängt, muss sie zuerst
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