Buddhas kleiner Finger
begegnet, aber keiner, der das Wort gebrauchte, war so freundlich zu erklären, worum es sich handelt.«
»Der Oktoberstern? Ganz einfach. Es ist das gleiche wie mit Weihnachten, wissen Sie. Die Katholiken feiern es im Dezember, die Orthodoxen im Januar – und beide beziehen sich auf denselben Tag der Geburt. Hier liegt der Fall genauso. Diverse Kalenderreformen, Fehler in der Überlieferung und so weiter – es heißt zwar, das Ganze habe im Januar stattgefunden, in Wirklichkeit aber war es im Oktober.«
»Was war im Oktober?«
»Sie setzen mich in Erstaunen, Pjotr. Das ist doch eine der berühmtesten Legenden der Welt. Es gab einmal einen Mann, der nicht so leben konnte wie alle. Er wollte herausfinden, was da eigentlich tagaus, tagein mit ihm passierte und wer er – der, dem es passierte – selber für einer war. Und eines Nachts im Oktober, als er unter der Krone eines Baumes saß, schaute er hinauf zum Himmel und sah dort einen hellen Stern. In dem Moment begriff er, und er begriff das alles so sehr, daß ein Echo jener weit zurückliegenden Sekunde bis heute …«
Der Baron verstummte, schien nach Worten zu suchen, fand aber offenbar nichts Passendes.
»Besprechen Sie das lieber mit Tschapajew. Der liebt es, davon zu erzählen. Worauf es ankommt, ist, daß dieses Feuer der Barmherzigkeit zu allen lebendigen Wesen seither brennt – und man darf es nie ganz ausgehen lassen, nicht einmal aus technischen Gründen.«
Ich blickte in die Runde. Das Panorama war in der Tat grandios. Plötzlich hatte ich das Gefühl, eines der frühesten Bilder auf Erden vor mir zu sehen: die große, wilde Horde an ihrem nächtlichen Lagerplatz, Feuer entfachend, um die herum die Krieger sitzen und in die Flammen starren, deren Züngeln ihnen begehrliche Träume vorgaukelt: Gold und Vieh und Frauen, die in den unendlichen Weiten auf sie warten. Wohin aber war die Horde unterwegs, zwischen deren Feuern ich mit Jungern spazierenging? Und wonach mochte den Leuten, die an diesen Feuern saßen, der Sinn stehen? Ich wandte mich an meinen Begleiter.
»Können Sie mir sagen, Baron, warum diese Männer alle so einzeln und getrennt an den Feuern sitzen, und keiner besucht den anderen?«
»Versuchen Sie doch mal, jemanden zu besuchen!« schlug Jungern vor.
Bis zum nächsten Feuer waren es höchstens fünfzig Schritt. Fünf oder sechs Mann schienen darum versammelt. Fragend schaute ich Jungern an.
»Gehen Sie!« redete er mir zu.
Achselzuckend machte ich mich auf den Weg. Einstweilen geschah nichts Irritierendes. Erst als ich ein, zwei Minuten gelaufen war, merkte ich, daß der leuchtende Punkt, auf den ich mich zubewegte, nicht im geringsten näher rückte. Ich sah mich um. Jungern stand am Feuer, drei, vier Schritt hinter mir, und schaute belustigt zu.
»Was dieser Ort gemein zu haben scheint mit der Welt, die Sie kennen, darf Sie nicht zu der Annahme verleiten, daß er zu ihr gehört«, sagte er.
Ich sah, daß die beiden zu Eis erstarrten Gestalten am Feuer nicht mehr da waren – auf der Erde zeichneten sich zwei dunkle, längliche Flecken ab, das war alles.
»Lassen Sie uns weitergehen«, sagte Jungern. »Wir wollten doch meine Leute besuchen.«
Ich klammerte mich an seinen Ärmel, und die Feuer begannen erneut an uns vorüberzuziehen – mit einer Geschwindigkeit, die Zickzack- und Strichellinien aus ihnen machte. Im übrigen war ich mir beinahe sicher, einer Illusion aufzusitzen, denn von einem Gegenwind – bei diesem Tempo unvermeidlich – war nichts zu spüren. Seit der Baron losgegangen war, schienen nicht wir, sondern die Dinge um uns in Bewegung geraten zu sein. Ich hatte jegliche Orientierung verloren und wußte nicht, wohin es uns zog. Hin und wieder stoppten wir für Sekunden, dann konnte ich sehen, wer am nächstliegenden Feuer saß. Zumeist waren es Männer mit struppigen Bärten und Gewehren, die einander glichen wie ein Ei dem anderen – und immer, wenn wir uns ihnen näherten, kippten sie um. Einmal meinte ich keine Flinten, sondern Speere in ihren Händen zu sehen; um es mit Bestimmtheit sagen zu können, war unser Halt viel zu kurz. Und ich wußte nun, woran mich unsere Fortbewegung erinnerte – genau so aberwitzig und im unbegreiflichen Zickzack fegen Fledermäuse durch die Nacht.
»Ich hoffe, Ihnen ist klar, Pjotr«, dröhnte Jungerns Baßstimme an meinem Ohr, »daß dies nicht der Ort ist, wo man Lügen auftischt oder auch nur ein bißchen flunkert?«
»Das kann ich mir denken«, sagte ich und
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