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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Rußland.«
    »Ach, die alte Leier. Kann ich nicht gutheißen. Aber lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Gehen wir ein bißchen spazieren?«
    Jungern wies mit dem Kopf in Richtung Erdhügel. Kotowski schluckte.
    »Ist mir eine Ehre, Baron«, gab er zur Antwort.
    Jungern warf Tschapajew einen fragenden Blick zu. Der reichte ihm einen kleines Paket.
    »Für zwei?«
    Tschapajew bejahte.
    Jungern versenkte das Bündel in der geräumigen Tasche seines Gewandes, legte Kotowski den Arm um die Schulter und zog ihn förmlich zu der Pforte; gleich darauf waren sie dahinter verschwunden.
    »Was ist dort?« wollte ich von Tschapajew wissen.
    Der schmunzelte.
    »Ich möchte Ihnen nicht die Frische des Eindrucks verderben.«
    Hinter den Hügeln krachte dumpf ein Revolverschuß. Eine Sekunde später erschien die hohe Gestalt des Barons in der Pforte, allein.
    »Und jetzt Sie, Pjotr.«
    Zögernd sah ich Tschapajew an. Er kniff die Augen zusammen und nickte ermunternd, wobei die Geste so heftig ausfiel, als versuchte er, sich mit dem Kinn einen Nagel in die Brust zu schlagen.
    Langsam ging ich auf den Baron zu.
    Ich gebe zu, mir war nicht wohl dabei. Nicht, daß ich mich unmittelbar bedroht gefühlt hätte. Oder nein, das Gefühl der Bedrohung war vorhanden, aber nicht so wie vor einem Duell oder einer Schlacht, wo man genau weiß, daß, falls die Dinge sich ungünstig entwickeln, man selbst der Leidtragende ist. Hier hatte ich das Gefühl, als drohte nicht mir Gefahr, sondern dem Bild, das ich von mir hatte. Ich schwebte nicht in Ängsten, sah mich aber schweben – einen Seiltänzer über dem Abgrund, der soeben der ersten Anzeichen eines auffrischenden Windes gewahr wurde.
    »Ich möchte Ihnen unser Feldlager zeigen«, sagte der Baron, als ich vor ihm stand.
    »Hören Sie, Baron, falls Sie vorhaben, mich aufzuwecken wie diesen Chinesen, dann …«
    »Ja, sagen Sie mal!« Der Baron lächelte. »Ihnen hat Tschapajew wohl ein paar Schauermärchen zuviel erzählt? Da schätzen Sie mich falsch ein …«
    Er faßte meinen Arm und drehte mich in Richtung Pforte.
    »Lassen Sie uns ein bißchen zwischen den Feuern Spazierengehen«, schlug er vor, »sehen, was unsere Leute so machen.«
    »Ich sehe keine Feuer«, sagte ich.
    »Nicht? Schauen Sie genauer hin!«
    Gehorsam blickte ich noch einmal auf den Zwischenraum zwischen den beiden unscharf umrissenen Hügeln. Da gab mir der Baron überraschend einen Stoß in den Rücken. Ich flog nach vorn und stürzte zu Boden. Der Stoß war außerordentlich rüde, ich kam mir vor wie eine aus den Angeln getretene Tür. Im nächsten Moment geschah etwas mit meinen Augen, es blitzte mehrmals, ich preßte die Lider zusammen, und in dem Dunkel dahinter glühten helle Flecke, wie sie nach heftigen Kopfbewegungen auftreten oder wenn man die Finger eine Weile fest gegen die Augäpfel preßt. Diese Leuchtflecke blieben, als ich die Augen wieder öffnete und mich vom Boden erhob.
    Ich wußte nicht mehr, wo wir uns befanden. Die Hügel, der Sommerabend – alles war weg. Ringsum war tiefe Nacht, und überall, so weit das Auge reichte, flackerten Lagerfeuer, angeordnet in unnatürlich strenger Regelmäßigkeit, wie in den Knotenpunkten eines nicht sichtbaren Gitters, das die Welt in zahllose Quadrate aufteilte. Die Entfernung zwischen zwei Feuern betrug an die fünfzig Schritt, so daß man vom einen Feuer aus nicht sehen konnte, wer am nächsten saß; man sah allenfalls verschwommene Umrisse, ohne mit Bestimmtheit sagen zu können, wie viele Menschen es waren – und ob überhaupt Menschen. Am seltsamsten war, daß sich auch der Boden unter unseren Füßen verwandelt hatte. Wir befanden dem Anschein nach auf einer von kurzem, dürrem Gras bewachsenen Ebene, die flach war wie ein Brett, mit keinem Höcker und keiner Senke dazwischen – sonst hätte der Eindruck dieses gleichmäßigen, makellos gewobenen Netzes aus Lagerfeuern nicht entstehen können.
    »Was ist denn das?« fragte ich verwirrt.
    »Aha«, sagte der Baron, »nun sehen Sie's also.«
    »Ich sehe etwas.«
    »Das ist eine unserer Jenseits-Filialen«, sagte Jungern, »die in der ich das Sagen habe. Hierher kommen vorwiegend Leute, die zu Lebzeiten Krieger waren. Schon mal was vom Walhall gehört?«
    »Ja«, sagte ich, während in mir der sonderbare, kindliche Wunsch wach wurde, mich an des Barons Robe anzuklammern.
    »Das haben Sie vor sich. Bedauerlicherweise landen hier nicht nur wackere Soldaten, sondern auch allerlei Dreckskerle, die sich durchs Leben

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