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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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spürte, wie mir vom Flirren der hellgelben Streifen und Strichlinien schwindlig wurde.
    »Beantworten Sie mir eine Frage«, hörte ich den Baron. »Was ist Ihr sehnlichster Wunsch im Leben?«
    »Mein sehnlichster Wunsch?« fragte ich zurück und überlegte.
    Die Frage war, wenn man nicht flunkern wollte, schwer zu beantworten. Ich überlegte lange, was ich sagen sollte, und wagte mich nicht zu entscheiden, bis die Antwort auf einmal wie von selbst kam.
    »Ich möchte mein goldenes Los finden«, sagte ich.
    Der Baron lachte laut auf.
    »Na prima«, versetzte er. »Fragt sich nur, was das für Sie ist, das goldene Los?«
    »Das goldene Los ist, wenn der freie Gedankenflug einem die Möglichkeit verschafft, die Schönheit des Lebens zu sehen. Drücke ich mich verständlich aus?«
    »O ja«, sagte der Baron. »Wenn sich alle so plastisch und konkret auszudrücken vermöchten! Wie kommen Sie bloß auf derart ausgefeilte Formulierungen?«
    »Das ist aus einem Traum«, erwiderte ich, »genauer gesagt einem Alptraum. Die seltsame Wendung habe ich mir genau gemerkt. Sie stand in einem großen Heft, einer Irrenhausakte worin ich im Traum geblättert habe – das tat ich, weil dort etwas sehr Wichtiges über mich vermerkt sein sollte.«
    »Gut, daß Sie von selbst darauf zu sprechen kommen«, sagte der Baron und bog nach rechts ab, wodurch das Feuerkarussell um uns her eine Art Längssalto vollführte. »Tschapajew bat mich, Ihnen etwas zu erklären, darum sind Sie hier. Wobei die erbetene Erklärung im Grunde nicht so außergewöhnlich ist, daß er sie nicht auch selbst hätte liefern können. Er hat Ihnen das alles schon etliche Male erzählt – zuletzt auf dem Weg hierher. Trotzdem sind Sie aus irgendeinem Grund immer noch der Meinung, daß die Welt Ihrer Träume weniger real ist als die Badestube, in der Sie mit Tschapajew einen draufmachen.«
    »Da mögen Sie recht haben«, sagte ich.
    Der Baron blieb plötzlich stehen, wodurch die Feuer ringsum zu tanzen aufhörten. Ich bemerkte, daß die Flammen einen alarmierend rötlichen Ton angenommen hatten.
    »Wie kommen Sie nur darauf?« fragte der Baron.
    »Schon weil ich wohl oder übel jedesmal in die reale Welt zurückkehre«, erwiderte ich. »In die Badestube, wo ich, wie Sie sagen, mit Tschapajew einen draufmache. Nein, intellektuell kann ich gut verstehen, was Sie meinen. Mir ist ja selber oft genug aufgefallen, daß der Alptraum in dem Moment, wo ich ihn träume, so sehr real ist, daß keine Chance besteht, ihn als Traum zu begreifen. Man kann die Dinge berühren, man kann sich kneifen.«
    »Wie wollen Sie dann noch den Traum vom Wachsein unterscheiden?« fragte der Baron.
    »Wenn ich wach bin, habe ich ein klares, unmißverständliches Realitätsempfinden. So wie jetzt.«
    »Ach, jetzt gerade haben Sie es?« fragte der Baron.
    »Eigentlich schon«, sagte ich, plötzlich etwas unsicher. »Wobei ich zugeben muß, daß die Situation ungewöhnlich ist.«
    »Tschapajew bat mich, Sie mitzunehmen, damit Sie wenigstens einmal an einem Ort sind, der weder mit Ihren Irrenhausalpdrücken noch mit Ihren Tschapajewträumen irgend etwas zu tun hat. Schauen Sie sich ordentlich um! Ihre beiden fixen Ideen erscheinen hier gleichermaßen illusorisch. Ich brauchte Sie nur einmal an einem dieser Feuer allein zu lassen, und Sie wüßten, wovon ich rede.«
    Der Baron verstummte, wie um mir Zeit zu geben, die beängstigende Perspektive auf mich wirken zu lassen. Ich ließ den Blick über die vielen unerreichbaren Leuchtpünktchen im schwarzen Raum schweifen. Der Mann hatte recht. Wo waren Tschapajew und Anna? Wo war jene fragile Höllenwelt mit den Kachelwänden und der zerbröselnden Aristoteles-Büste? Sie waren nirgends, zumindest jetzt, und ich war nun sogar felsenfest überzeugt, daß sich kein Ort denken ließ, an dem sie hätten sein können, weil ich, der ich neben diesem merkwürdigen Menschen (Menschen?) stand, ich und kein anderer das Nadelöhr verkörperte, den einzigen Weg, auf dem all jene Irrenhäuser, Bürgerkriege et cetera in die Welt zu treten vermochten. Gleiches betraf den finsteren Limbus, wo ich gerade weilte, seine verschreckten Insassen und seinen großen, grimmigen Wächter – dies alles existierte nur, weil ich existierte.
    »Mir scheint, ich kapiere«, sagte ich.
    Jungern sah mich zweifelnd an.
    »Was genau kapieren Sie?«
    Im selben Augenblick ertönte hinter uns ein wüstes Geschrei:
    »Ich! Ich! Ich! Ich!«
    Wir fuhren beide herum.
    Nicht weit von uns – es

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