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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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hintrittst. Du läufst ihm noch ins Visier.«
    Er wandte sich zu Anna um.
    »Komm! Bevor noch was passiert.«
    Anna nickte und trat vorsichtig unter die Mündung des kurzen Geschützrohrs.
    »Paß genau auf, Petka«, sagte Tschapajew.
    Die brennende Papirossa zwischen den Zähnen, zog Anna einen kleinen, runden Taschenspiegel hervor. Sie hob ihn über den Kopf, genau vor den Lauf, und bevor ich begreifen konnte, was da passierte, war der Panzerwagen verschwunden. Es geschah so unerhört schnell und reibungslos, als hätte jemand eine Laterna magica ausgeschaltet und das Bild auf dem weißen Laken zum Erlöschen gebracht. Übrig blieben einzig vier nicht sehr deutliche Abdrücke von den Rädern, das Gras begann sich dort bereits wieder aufzurichten. Und die Stille war nun endgültig vollkommen.
    »Das war's«, sagte Tschapajew. »Diese Welt ist hinüber.«
    »Mist«, sagte ich, »wir haben die Zigaretten dagelassen. Und sagt mal, was ist mit dem Chauffeur?«
    Tschapajew zuckte zusammen und sah erschrocken erst mich an und dann Anna.
    »Verdammt«, sagte er, »den hab ich glatt vergessen. Anna, hättest du nicht daran denken können?«
    Anna hob theatralisch die Hände. In dieser Geste war nicht der Funken eines aufrichtigen Gefühls. Zur Schauspielerin hat sie nicht das Zeug, dachte ich – trotz aller Schönheit.
    »Ich kann mir nicht helfen«, sagte ich, »irgendwas ist hier faul. Wo ist der Chauffeur?«
    »Tschapajew, ich halt das nicht mehr aus«, meinte Anna. »Macht das unter euch aus.«
    Tschapajew seufzte und zwirbelte seinen Schnurrbart.
    »Beruhige dich, Petka«, sagte er. »Es hat nie einen Chauffeur gegeben. Du weißt doch, da gibt's so Zettelchen mit einem magischen Stempel drauf, die werden hinter die Zähne gesteckt, und dann …«
    »Ach«, sagte ich. Mir ging ein Licht auf.
    »Sag doch gleich, daß es ein Golem war. Für ganz blöd mußt du mich nicht halten, weißt du? Der Mann ist mir von Anfang an komisch vorgekommen. Tschapajew, mit solchen Talenten hätten Sie in Petersburg Karriere machen können!«
    »Was hab ich denn in Petersburg verloren?« fragte Tschapajew.
    »Und was ist mit Kotowski?« fiel mir ein, und ich wurde wieder unruhig. »Hat's den auch erwischt?«
    »Insofern er nie existiert hat, wäre diese Frage leicht zu beantworten«, sagte Tschapajew. »Doch falls dich sein Schicksal menschlich gesehen interessiert, kann ich dich beruhigen. Kotowski ist wie du und ich in der Lage, sich sein eignes Universum zu kreieren, glaub mir.«
    »Werden wir darin vorkommen?«
    Tschapajew dachte nach.
    »Interessant. Auf die Frage wäre ich von allein nie gekommen. Ja, vielleicht kommen wir darin vor, aber in welcher Form, wage ich nicht zu sagen. Woher soll man wissen, was dieser Kotowski in seinem Paris für eine Welt ausheckt. Oder besser gesagt, was für ein Paris in seiner Welt.«
    »Oje«, sagte ich, »jetzt wird's wieder sophistisch.«
    Ich ließ ihn stehen und lief zum Rand des Plateaus. Das heißt, bis ganz nach vorn kam ich gar nicht – ein paar Meter von der Grenze des Kreises entfernt, drehte sich mir schon der Kopf, und ich mußte mich schnell auf den Boden setzen.
    »Geht es Ihnen nicht gut?« fragte Anna.
    »Mir geht es prächtig«, entgegnete ich. »Aber was machen wir nun? Ménage à trois??«
    »Ach, Petka«, sagte Tschapajew, »wie oft soll ich es dir noch erklären. Form ist leer. Weißt du, was das heißt?«
    »Was heißt das?«
    »Das heißt, Leere ist Form. Mach die Augen zu. Mach sie wieder auf.«
    Ich weiß nicht, wie ich die nächste Sekunde beschreiben soll.
    Was ich vor mir sah, war ein in allen Farben des Regenbogens leuchtender, unermeßlich breiter Strom, der irgendwo im Unendlichen begann und sich im ebenso Unendlichen wieder verlor. So weit das Auge reichte, nichts als dieser Strom und wir als Insel mittendrin – und dennoch war es kein Ozean, sondern ein Fluß, es gab eine deutliche Strömung. Das Licht, mit dem er uns überschüttete, war sehr hell, jedoch nicht blendend oder sonstwie unangenehm, es war die reine Wohltat, das pure Glück, die unendliche Liebe – wobei diese von soviel Kunst und Literatur besudelten Worte doch nicht wiederzugeben vermögen, was es war. Es reichte, das unaufhörliche Spiel der Regenbogenfarben zu sehen, ihr Funkeln und Blitzen – jeder Gedanke, jeder Traum in mir war Teil des Stroms, ja, dieser schillernde Regenbogenstrom war all das, was ich zu denken und zu fühlen imstande war, all das, was sein oder nicht sein konnte – und

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