Büchners Braut: Roman (German Edition)
über die Köpfe der Buben. Die Sicheln und Sensen knirschten über den Stein, die Funken stoben davon, bis sie blank waren. Ho! Ho!, riefen die Bauern in einem dunklen, lauten Ton. Weiter! Weiter! Und dann das langgezogene: Hoooooo!, tief und flach, das hieß anhalten.
Von Scharrachbergheim war die Erinnerung geschrumpft. Nur diese kleinen Bilder. Kinder barfuß, staubig. Rufe. Lachen, Jauchzen, Fluchen. Weinstöcke an den Spalieren vor den Hauswänden. Obstbäume im Pfarrgarde, hinten draußen an der Straße, darum die rote Sandsteinmauer. Saure grüne Äpfel in der Kinderhand, an der braune Krusten klebten, wenn man zuvor in den Beeten Erdwändchen gezogen hatte. Quadrate, Wege, kleine Wohnungen, in denen Holzstückchen als Menschen wohnten. Die Hände der anderen Mädchen dazwischen. Die meisten von ihnen trugen bis weit in den Herbst hinein keine Schuhe.
Minna war klein, und die Dorfstraße zog sich hart an der Flanke des Scharrach entlang, ansteigend bis zur Kirche oben am hohen Ende des Dorfes. Erinnerte sie sich, oder wusste sie es, weil sie den Ort auch später besucht hatte? – Ein Bild blieb. Die Rebstöcke drüben jenseits des Pfarrgartens, durch die Obstbäume hindurch und über der Straße, auf dem Scharrachrücken. Es muss Mittagszeit gewesen sein im späten Sommer. Die Trauben waren noch nicht geerntet. Bald sah sie den Pfarrhofund die Kirche von oben, und auf die Dächer der Häuser schaute sie nun, der Kirchturm, der Finger im Himmel, rosa Stein, wie Bauklötze. Die Rebstöcke größer als sie, über ihrem Kopf Trauben, Blätter, rechts und links Blätter, manche rot. Eng ein Stamm neben dem anderen. Hier weiter? Dort! Kein Weg da, nur grüne Trauben vor den Augen. Weiter ging sie, obgleich keine Kirche mehr zu sehen war. Das Herz schlug über die vagen Mama-Rufe hinaus, schlug und schlug. Dann die Antwort. Minna! Minna!
Sie krallte sich in die Schürze der Mutter, die Wangen tränennass. Auf dem Arm der Mutter war sie schnell zurück, die Welt wurde wieder niedrig und begleitet von der tadelnden Mutterstimme. So schnell war sie zurück, und wie lange war sie im Weinberg geblieben. Auf dem Arm der Mutter konnte man fliegen!
Drei Jahre muss sie gewesen sein. Dies konnte sie sich ausrechnen. Es war Sommer, und Louis-Théodore war ein Jahr alt. An eine Welt ohne Louis-Théodore konnte sie sich nicht erinnern. Der Bruder wurde gefüttert, er schrie oder wurde getragen. Die Leute besuchten den Pfarrer, in der Kirche war es kühl und feierlich.
Dann zogen sie nach Goxwiller. Hier stand die Kirche in der Mitte des Ortes, die Häuser scharten sich darum in die kleine Ebene. Die Hügel waren weiter weg, man musste zu ihnen hinaufsehen.
Aber alles war so ähnlich, die Stimmen, der Staub, der säuerliche Most, die kuhwarme Milch, die Kittelschürzchen und die schmierigen Flecken darauf. Scharrachbergheim oder Goxwiller. Sie trug Schuhe, andere nicht. Die Schürze, die ihre Mutter über den Kleidern trug, wargenauso von der Haus- und Gartenarbeit beschmutzt wie die der Bäuerinnen. Nur den bissigen Stallgeruch, den hatte ihre Mutter nicht an sich. Sie molk nicht. Das machte die Magd. Aber Geflügel musste sie schlachten. Dann war die Schürze rot getupft. Große und kleinere Tupfen, die Minna erst mit dem Finger untersuchte, an dem sie kurz leckte, während die Mutter den baumelnden, schlaffen Tierleib auf ihrem Schoß rupfte. Sie sah nicht zu ihrer Tochter. Sie arbeitete. Ihre Tochter war ruhig und brav, lernte anständig das Beten, und mehr war mit dem Kind noch nicht anzufangen.
Minna stand manchmal still am Gartentor oder saß lange mit einer Puppe quer über den Beinen auf der Bank vor dem Haus. Sie untersuchte Gräser, fing Fliegen wie ein Junge, aber ganz ohne Juhu- und Ich-hab-sie-Rufen. Holte sogar ab und zu ihren Kamm aus dem Haus und kämmte einem Bauernmädchen die staubig-klebrigen Haare.
Oft stand sie, die Hände auf dem Rücken verschränkt, neben ihrem Vater, der am Schreibtisch die Feder in die Tinte tauchte und weiße Bögen Papier beschrieb. Mit so einem Kind hatte man wenig Ärger.
Lass sie langsam etwas im Haushalt tun, sagte der Vater zu seiner Frau. Wenn er im gestärkten Krauskragen zum Gottesdienst ging, war er froh darum, dass er eine Frau hatte, die ohne viel Aufhebens alles recht und gut regelte. Sein Töchterchen zeigte sehr bald das klare weibliche Wesen ihrer Mutter, lernte leicht gute Manieren und sich auszudrücken. Die Eltern meinten, das derbe Landleben färbe kaum
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