Büchners Braut: Roman (German Edition)
auf und ab singen zu können, sagt ja, dass auch dieser Mann, Leonce, oder ich oder wer auch immer, wohl kaum jemals diese ganze Skala wird kennenlernen. Und wie sollte ich sie kennen, ich war jung, ich bin jung gestorben.
Minna zieht die Stirn in Falten, dreht sich um und geht langsam weiter.
Bleib stehen, Minna!
Nein!
Und dasselbe gilt wohl für die Frauen! Wie viele Geliebte sollte sie sich zulegen, um wirklich sagen zu können, sie kenne nun die Liebe der Männer in all ihren Zügen?
Ich kenne meinen Teil davon, George!
Du kanntest mich, und ich kannte dich. Du hast mich geküsst, Minna!
Ja, dich – und andere. George, ich habe vor dir geliebt, und ich habe nach dir geliebt!
Minna zog die Tür hinter sich ins Schloss. Durch die Dachfenster fiel ein trübgelber Schimmer der Straßenlaternen. Sie nahm die Zündhölzer vom Tischchen neben dem Eingang, entzündete eine Kerze im Halter und trug sie zum Tisch. Dort drehte sie die Petroleumlampe auf, hielt die Kerze daran. Es wurde heller. Der Tisch war leer und die Schreibkommode abgeschlossen, allesaufgeräumt. Gut! Sie trocknete kurz ihre Haare nach und legte sich das Handtuch um den Kopf.
In ein, zwei ihrer Liederbändchen suchte sie nach dem Kinderlied von der Hochzeit. Aber in keinem war es zu finden. Sie holte schnell einen halben Bogen Papier aus der Schreibkommode, das Tintenfässchen und schrieb im Stehen beide Texte auf, den ihrer Mutter aus dem Breisgau und den elsässischen von Adele. Die Mädchen sollten es doch lernen. Adele hatte recht. Der kleine, süße Traum von der Hochzeit war es, von dem Tag, an dem ihnen der Rosmarin in den Brautstrauß gebunden wird und die Petersilie in der Hochzeitssuppe schwimmt, der Traum, der noch so unschuldig daherkommt. Und wie bald hatte diese Unschuld ein Ende, und die Blicke zu den Burschen waren suchend und leuchtend. Dabei wussten es die Mütter, und sie sagten nichts. Sie mussten es doch selber wissen, wie es war! Auch ihre Mutter hatte nichts dazu gesagt und bemerkte doch Minnas Unruhe.
1832 bis 1833
George, komm zurück! Bitte! Minna rief verhalten, denn die anderen waren dicht hinter ihr, etwas mehr als in Rufweite, dazwischen Tannen und Buchen. Es war eine Landpartie gewesen, zu der Vater Jaeglé geladen hatte, über Montagne Verte hinunter zum Niederwald. Jetzt waren sie am See angekommen, und Georg war vorausgeeilt. Er wandte sich um und winkte auf ihr Rufen mit dem Zylinder in der Hand. Wie ein Kind beim Versteckspiel hüpfte sie zwischen den Sträuchern zu ihm. Georg warf einen flachen Stein über den See. Dreimal tanzte er auf der Oberfläche, ehe er unter den Wellenkreiseln verschwand. Minna sah ihm nach, flüsterte: Pass auf, ich phantasiere uns Küsse auf die Lippen.
O ja, ich küsse dich. Fühlst du es, sagte er. Und heute Abend werde ich dich zur Nacht küssen, ganz gewiss.
Dabei schauten sie unschuldig aufs Wasser, Georg hob den nächsten Kiesel auf.
Minna suchte einen Stein oder Baumstumpf zum Sitzen. Ihr Vater rief: Nicht ausruhen, dort hinunter, auf einen freien Platz, wo wir die Plaids ausbreiten können.
Sie folgten den anderen, dem Vater, dem kleinen Lucius, August und Adolph Stoeber, dem Hausmädchen, Edouard Reuss und Eugène Boeckel. Minna hatte Georg gesagt, sie wolle bei der Rückfahrt im Stellwagen nicht wieder ihm gegenübersitzen. Sie könne es nichtaushalten, ihn gleichgültig anzusehen. Das tagtäglich aufgesetzte Parlieren genüge ihr schon. So tun, als ob man sich nichts zu sagen hätte. Was redest du, hatte er erwidert. Wenn der Zufall es will, sitzen wir sogar nebeneinander.
Alles Zufall. Das Wort hing Minna täglich an. Alles eine zufällige Begegnung? Zufall bestimmt den Augenblick, in dem sie ihre Hände streicheln können.
Auf einer kleinen Lichtung folgte das Pique-nique.
Das Essen fand Eugène superb. Belegtes Brot mit eingelegten Gurken, Munster-Käse und zum Abschluss Apfelkuchen.
Es ist grandios, hier zu sitzen, das Wetter für Götter, rief er. George, mein Freund, vergessen ist heute die Anatomie simple et comparée, versprich es mir, définitivement!
Wenn du weiter davon sprichst, werde ich dich heute noch sezieren, dir die Stimmbänder herausnehmen.
Man lachte, man aß, tat so, als gäbe es keine Pflichten. Nach einer Stunde packte Minna ein und fand, dass Eugène wieder einmal seine charmante Einfalt zur Schau trug.
Und übrigens, flüsterte Georg, der ihr scheinheilig und linkisch half, Freund Eugène gestand mir letzthin beiläufig, er sei
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