Büchners Braut: Roman (German Edition)
bis ihr die Worte ausgingen, und begonnen, die Politik und den Staat zu verfluchen.
Ich kenne mich selbst kaum noch, sagte sie Georg bei seiner geglückten Ankunft in Straßburg. So ruhig und gelassen blieb sie, dass man sich wunderte.
1855
Jetzt hatte auch sie diese Methode einschleichen lassen, die Mädchen mit Bibelstunden zu beschäftigen. Gut, man konnte auch sagen, sie lernen lesen. Aber ist die Bibel eine so leichte Lektüre?
In der Rue des Cordonniers warteten die Stühlchen auf die Schülerinnen. Minna war ungeduldig, fühlte sich schlecht vorbereitet. Sie blätterte noch im »Magazin des Enfants«, quasi Handbuch der Gouvernanten, fast jede Seite des Buches war ihr vertraut. Wie lange noch, fragte sie in das leere Zimmer hinein, wird es mein Leben täglich bestimmen? Wie um es loszuwerden, legte sie es kurzerhand auf dem kleinen Teetisch ab, rieb mit den Handflächen ihr Gesicht. Es wird sich dann schon eine Geschichte finden, bei der guten alten Madame Beaumont, eine phantasievolle, die sie vorlesen wollte. Es war eben das ideale Buch, sie besaß die französische wie die deutsche Ausgabe, und so konnten sie die Texte parallel lesen. Die älteren Mädchen sollten selbst ein Stück vortragen. Danach Stricken und Zierstiche für die Geschickteren. In der zweiten Unterrichtshälfte Bibeltext. Mein Gott, welcher? Minna lief kurz auf und ab, die Linien des Teppichmusters vor Augen. Es war so bequem, eine Stunde mit Bibellesen zu füllen. Dabei hatte es für Minna eine Zeit gegeben, während der sie diese Pflichtstunde aus Oberlins Statuten verachtete, und in den ersten Jahren in ihrer eigenen Kleinmädchenschule hatte sie diese Stunde oft entfallen lassen. Es war, als ob GeorgesGeist um sie war, er mit ihr redete, ihr die klare, ungeschönte Sicht beibrachte: Man könne die Zustände nicht nur beklagen, sondern man müsse sie auch ändern! Mit der Bibel, der Rede von Gottes Ordnung sollten die armen und einfachen Menschen mundtot gehalten werden. Ein Hoffen auf die Erlösung im Himmelreich müsse ihnen genügen.
Die ersten Schritte auf der Treppe waren zu hören.
Und jetzt war sie oft so müde, war es leid, die Grundübungen des Rechnens nochmals und nochmals wiederzukäuen, die Grammatik vor den großen, fragenden Augen zu erklären, sich Beispiele auszudenken.
Kommt herein, sagte sie. – Bonjour, Mademoiselle Mimi. – Zwei Stimmen unisono.
Wenn sie gute Sätze lesen konnten, würden sie sie auch leidlich schreiben. Und dann den Glauben behalten, eines der Mädchen würde einmal mehr als ihre Besorgungszettel, ihr Ausgabenbuch oder ihre Rezepte und kurzen Pflichtbriefe zu Papier bringen. Welche? Madeleine, Justine, Hanna, Magret, Ida? Minna musste sie bei Laune halten, ihnen ein Gefühl geben, dass Lernen doch sinnvoll ist.
Das Zimmer füllte sich. Heute waren alle da.
Wofür ist Rechnen gut, Mademoiselle Mimi?
Nun, wenn du groß bist, musst du deine Ausgaben zusammenzählen, musst prüfen, ob die Rechnung stimmt, die dir der Handwerker gestellt hat, solltest dir auch ausrechnen können, wie viele Ellen Stoff du für ein Hemd oder einen Rock benötigst.
Und?
Dein Mann wird böse sein, wenn du mit dem Haushaltsgeld nicht zu Rande kommst.
Und?
Ach, ich weiß nicht …
Mein Bruder sagt, er will Sterne erforschen und lernen auszurechnen, wie weit die Sterne voneinander entfernt sind.
So, kann man das? Ja, ich glaube. Aber ich bin eher froh, solche Dinge nicht ausrechnen zu müssen.
Alles wurde erforscht und ausgerechnet, die ganze Welt, schier alles wurde entdeckt. Die Materie hält ihren Siegeszug. Ludwig Büchners Buch machte eine Reise durch alle Länder. Kraft und Stoff erhalten die Welt am Leben. – Ein einfacher Kreislauf, hatte George gesagt. Das Herz pumpt das Blut durch Lunge und Körper, ein zweigeteilter, ununterbrochener Kreislauf. Das Bild vom Herzen, und seine Hand, die das Zusammenziehen und Entspannen des Muskels nachahmte. – Minna schaut ihre Faust an, die mehr und mehr hervortretenden blauen Adern unter der dünnen, langsam welkenden Haut. So vieles hatte sie sich von George erklären lassen wollen. Alles hatte sie wissen wollen. – Alles? Das geht doch gar nicht, lieb Kind. – Er redete von Politik, sie vom täglichen Leben.
Und jetzt bereitete sie ihre Bibelstunde vor. Was ergab Sinn, woran konnte sie etwas Lebensnahes erklären? Sie entschied sich für die Geschichte von den beiden Männern, von denen einer sein Haus auf Sand, der andere auf Fels erbaut hatte. Und
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