Buerger, ohne Arbeit
den Verlierern des Schulsystems verstärken sich
die jeweils mitgebrachten Vor- und Nachteile »mit erschreckender Deutlichkeit«. 343 Mit einer Ausnahme verpufften die egalisierenden Impulse der Bildungsexpansion der 1960er, 1970er Jahre: Bildungsbeteiligung
und Bildungserfolg von Mädchen und jungen Frauen zeigen seither eine kontinuierlich aufsteigende Tendenz. 344
2. »Die aus den kulturell am stärksten benachteiligten Familien stammenden Schüler oder Studenten erlangen am Ende einer häufig
mit schweren Opfern bezahlten langen Schulzeit aller Wahrscheinlichkeit nach nur einen entwerteten Titel, und wenn sie scheitern,
was für sie noch das wahrscheinlichste Schicksal darstellt, dann sind sie zu einer zweifelsfrei stigmatisierenderen und noch
totaleren Ausgrenzung verurteilt als in der Vergangenheit. In dem Maße stigmatisierender, als sie anscheinend ›ihre Chance‹
gehabt haben und als die Institution Schule tendenziell immer ausschließlicher die soziale Identität definiert; noch totaler
in dem Maße, als ein immer größer werdender Anteil der Plätze auf dem Arbeitsmarkt rechtmäßig und tatsächlich von den immer
zahlreicheren Inhabern eines Diploms besetzt wird … Deshalb erscheint die Institution Schule den Familien wie den Schülern
selbst tendenziell mehr und mehr als ein Köder, Quelle einer immensen kollektiven Enttäuschung: Je mehr man sich auf sie zubewegt,
um so |302| mehr weicht diese Art von gelobtem Land, dem Horizont gleich, zurück.« 345
3. Nach absolviertem Schulbesuch wird es nicht besser. Weiterführende Bildungsinstitutionen vertiefen die schulischen Markierungen.
Sie lancieren die glücklichen Erben des kulturellen Kapitals in die für sie vorgesehenen Positionen und verweisen die Erbärmeren,
sofern sie sie nicht überhaupt zur Aufgabe des aussichtslosen Wettbewerbs bewegen, instinktsicher auf die nachgeordneten Ränge.
Eine Studie über Berufsverläufe von 6 500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern der Abschlußjahrgänge
1955, 1965, 1975 und 1985 diagnostizierte eine wachsende Unpassierbarkeit der sozialen Aufstiegskanäle für Anwärter von unten.
In Deutschland rekrutieren sich derzeit etwa sechzig Prozent der hohen Richter und Beamten sowie gut die Hälfte der Professoren
aus dem wohlhabenden Bürgertum, fast jeder zweite Spitzenmanager entstammt dem Großbürgertum. Ausdruck höherer Begabung, größeren
Fleißes? – Die Frage läßt sich anhand der weiteren Laufbahn jener Arbeiterkinder entscheiden (und verneinen), die sich bis
zur Promotion durchrangen. Verglichen mit den Kindern von leitenden Angestellten oder Unternehmern besitzen sie eine zehnfach
geringere Aussicht, in Führungspositionen großer Firmen vorzudringen. Zwar öffneten sich akademische Bildung und Promotion
seit den sechziger Jahren in bescheidenem Umfang für die Kinder von Arbeitern und kleinen Angestellten, der bürgerliche Nachwuchs
geriet dadurch nicht in Verlegenheit. Seine Anwartschaft auf die Besetzung »verantwortlicher«, daher hoch dotierter Funktionen
gewann im selben Zeitraum die Festigkeit eines Abonnements. 346 In jenen seltenen Fällen, in denen Leistung und formale Qualifikation kein eindeutiges Urteil zugunsten der Privilegierten
fällten, sorgten ständische Auslese und Kooptation für die Berufung der Berufenen. Sollte die Bundesrepublik dem soziologischen
Typus einer »nivellierten Massengesellschaft« |303| je entsprochen haben, so hat sie sich davon jedenfalls gründlich entfernt. 347
4. Was tun? Theoretisch stehen zwei Verfahren zur Auswahl, um die wilde Logik sozialer Vererbung politisch zur Räson zu bringen.
Das erste könnte als Verfahren der NACHTRAGENDEN Gerechtigkeit beschrieben werden und wurde schon kurz umrissen (§ 35.7).
Es rechnet mit der ererbten Ungleichheit sowie mit jener, die noch aus der konsequenten Befolgung der Regeln fairen Wettbewerbs
erwächst. Da die Verteilung von Gütern und Status immer wieder aus dem Gleichgewicht gerät, muß die Balance von Zeit zu Zeit
erneuert werden.
Das langfristige Zusammenwirken freier und gleicher Individuen setzt die gleiche Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum
voraus; sich dieser gemeinschaftlich zu versichern, bedarf es objektiver Maßstäbe, einer »Stammliste der Grundgüter«, über
die jeder und jede verfügen muß. Sie umfaßt Grundrechte und Grundfreiheiten; Freizügigkeit und freie Berufswahl; Befugnisse
und
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