Buerger, ohne Arbeit
Ungerechtigkeitsempfindens
keine Gnade. Der »Volkszorn« über bestechliche Funktionsträger bestätigt indirekt die verbreitete Anerkennung der Unparteilichkeit
als diskussionswürdiger Grundlage sozialer Privilegien auf Zeit und für begrenzte Zwecke.
10. Stehen die hier versammelten Bestimmungsgründe hinnehmbarer Ungleichheit wirklich auf derselben Stufe? Wechselt, wer von
Einkommen, Bildung, Begabung, öffentlichen Ämtern spricht, nicht fortgesetzt das Stockwerk, die Abteilung? Müssen sich ökonomische
Rangordnungen zwangsläufig in kulturelle und politische übersetzen? Wäre, mit anderen Worten, der tolerierbare Spielraum für
soziale Unterschiede nicht erheblich größer, wenn sie sich in ihren angestammten Grenzen hielten? Das wäre zweifelsfrei der
Fall. Nichts vertritt der Chancengleichheit, schon der formalen, anmaßender den Weg als die freie Konvertierbarkeit von Geld,
öffentlichem Einfluß und politischer Macht. Um arglos mit sozialen Abstufungen umgehen, um Gefallen an »komplexer Gleichheit«
finden zu können, muß gewährleistet sein, »daß die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines
bestimmten sozialen Gutes nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines
anderen Gutes«. 339 Nur verhält es sich nicht so.
Der Springpunkt der illegitimen Übertragungrechte liegt in der Dominanz des Kapitals außerhalb des Marktes; sie vor allem
verleiht dem Gegenwartskapitalismus sein zudringliches Wesen. Beschränkung, Einhegung ökonomischer Macht, so daß die Wirtschaft
tatsächlich in der Wirtschaft stattfindet und nur dort, ist die Grundbedingung dieses differenzierten Gerechtigkeitsverständnisses;
sie fordert nichts Geringeres als den Mut, mit dem Kapitalismus in seiner jetzigen Gestalt zu brechen. 340
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§ 39 Soziale Vererbung
1. Die Verwandlung funktionsbedingter Privilegien in persönliche Erbhöfe widerspricht dem verfassungsmäßigen Buchstaben der
Demokratie und in noch höherem Grade ihrem Geist. Gleichwohl scheint diese Praxis im Alltag demokratisch verfaßter Gesellschaften
feste Wurzeln geschlagen zu haben. Wie sonst könnte man sich erklären, daß sich soziale Unterschiede samt der an sie gebundenen
Vor- bzw. Nachteile in der Generationsfolge fortpflanzen, oft genug sogar verstärken.
Die Bundesrepublik liefert für diesen Landgewinn des Feudalismus auf dem Territorium der Moderne ein betrübliches Beispiel.
Herkunft und berufliche Laufbahn greifen ineinander, weit enger, als einer Gesellschaft mit einem tief gestaffelten und überwiegend
öffentlich finanzierten Bildungssystem ansteht. Die schulischen Institutionen reproduzieren die vorausgesetzten Unterschiede,
statt sie auszugleichen oder zumindest abzuschwächen, und reichen die sie durchlaufenden Individuen sozial vorsortiert und
gekennzeichnet weiter, die einen unmittelbar an den Arbeitsmarkt, die anderen an höhere Ausbildungseinrichtungen. Anspruch
und Realität der Moderne klaffen im heutigen Deutschland empörend auseinander. Der »Zugang aller zu prinzipiell allen Funktionsbereichen
und Positionen« steht auf vergilbtem Papier, die effektive Auslese folgt einer anderen Regel: »Werde, was du von Haus aus
bist!« – Schon die BildungsZIELE junger Menschen korrelieren strikt mit ihrem Bildungserbe, dem Schulabschluß des Vaters 341 ; die gewählte Schulform sowie die erreichten Bildungsabschlüsse zeigen dieselbe Abhängigkeit. Kinder aus der Unterschicht
bevölkern die Hauptschulen, die unteren Mittelschichten dominieren an den Realschulen und die Sprößlinge der anderen sozialen
Gruppen zieht es aufs Gymnasium. Wer sich von unten gegen den Trend stemmt und die Abiturstufe erreicht, besitzt erheblich
schlechtere Aussichten auf einen |301| Abschluß als die »geborenen« Abiturienten. Generell korrespondiert schulisches Versagen, gleichgültig auf welcher Plattform,
der spärlicheren kulturellen Mitgift. 342
Dem vorgezeichneten sozialen Schicksal zu entrinnen fällt um so schwerer, als sich die BildungsMOTIVATION, Lerneifer und Wißbegierde,
nach familiär erworbenen Dispositionen staffeln. Die es am nötigsten hätten, sich anzustrengen, verspüren den geringsten Anreiz
dazu. Niedere Schulform, mäßiger oder ausbleibender Schulerfolg und Arbeitslosigkeit bilden einen sozialen Schluß mit ebenso
zwingender wie deprimierender Überzeugungskraft. Bei den Gewinnern wie bei
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