Buerger, ohne Arbeit

sozialen Ungleichheit bei seinen Wurzeln. Gerechtigkeit, in diesem Verständnis, beginnt bei Null, bald nach
     der Geburt, und gehorcht dem Grundsatz gerechter Ungerechtigkeit (§ 35.6): Wer am wenigsten mitbringt, dem wird am meisten
     gegeben. 354
    Der Boden, auf dem soziale Vererbung gedeiht, liegt weit unterhalb der Schulschwelle. Auch das beste Schulsystem vermag die
     ererbten Unterschiede nicht wirksam aufzuheben. Der Einfluß von Schule, Freundeskreis und Nachbarschaft auf die jungen Heranwachsenden
     ist nicht geringzuschätzen; die pädagogische »Richtlinienkompetenz« liegt stets bei den Familien. Heutzutage wirkt das familiäre
     Milieu in bezug auf Fremdeinflüsse wie eine osmotische |306| Wand, die verhindert, daß die heimische »Lösung« in die Umwelt ausschwemmt, mit ihr identisch wird. Diese Wand zur Welt zu
     öffnen bedeutet nicht, die Kinder gegen ihre Eltern aufzubringen, wohl aber, sie vor den langfristigen Konsequenzen der Unterentwicklung
     öffentlich in Schutz zu nehmen. – Der »Frontalangriff auf Armut in Familien mit Kindern«, materielle wie kulturelle, durch
     eine umfassende und hochwertige staatliche Betreuung des Nachwuchses, steht zugleich im Dienst eines anderen Grundprinzips
     sozialer Demokratien, uneingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten für Erziehende, ob männlich oder weiblich, gemeinschaftlich oder
     allein erziehend. 355
    FORMALE Chancengleichheit ist bereits dann gegeben, wenn niemand durch gesetzliche Regelungen an der Entwicklung seiner Anlagen
     gehindert wird. FAIRE Chancengleichheit soll die Bedingungen dafür schaffen, daß diejenigen mit GLEICHEN Fähigkeiten gleich
     gute Aussichten auf ein gelingendes Leben wahrlich besitzen, unabhängig von ihrer Geburt. 356 SUBSTANTIELLE Chancengleichheit existiert dagegen erst, wenn sich diese Aussichten auch denen mit UNGLEICHER Mitgift eröffnen,
     wenn die frühe und beharrliche Stimulierung kognitiver Fähigkeiten die elementare Voraussetzung dafür, den WUNSCH zu lernen,
     in jeden Menschen einpflanzt. Währt diese kollektive Anstrengung auch nur ein Menschenalter, was heute etwa drei biologischen
     Generationen entspricht, sprengt sie, wenn nicht die sozialen Klassen selbst, so doch die Klassengesellschaft mit der für
     sie kennzeichnenden Unterwerfung des persönlichen Geschicks unter das vorherbestimmte gesellschaftliche Schicksal.
    Das gelang bisher nur in Skandinavien. Schweden und Norwegen rühmen sich eines Rückgangs der Sozialvererbung bis an die Grenze
     ihres Verschwindens. Der Vorreiter dieser Entwicklung ist Dänemark, wo die väterliche Ausbildung keinerlei Prognosen über
     die Sekundarschulleistungen der Kinder erlaubt. 357 Hier hat sich der familiäre Hintergrund |307| als bestimmender Faktor für die Art und den genauen Ort des Eintritts in die Erwachsenenwelt vollständig aufgelöst; das Lotteriespiel
     der »Natur« hat einen neuen Veranstalter gefunden, die Gesellschaft (§ 40.9).
    7. Das Wunder stammt aus einfachsten Verhältnissen; aus dem geschulten Sinn für Gleichheit; aus dem Willen, die hohen sozialen
     Kosten gemeinschaftlich zu tragen; aus tauben Ohren für die Haßpredigten der Gleichheitsfeinde. Erheblich wie die Mühe ist
     ihr Lohn. Alle genannten Länder verfügen über einen gutgeschulten Nachwuchs, fähig zur Übernahme anspruchsvoller Arbeiten;
     über Menschen, die Wissen als Kulturtechnik und als Selbstzweck schätzen, nicht zwangsläufig in soziale Starre fallen, wenn
     sie vorübergehend einfachere Funktionen versehen oder die Arbeit verlieren; über Bürger, die sich selbst zu leiten wissen,
     sich und der Gesellschaft im ganzen die Folgekosten kultureller Armut sparen; gegen die materielle haben sie sich ohnehin
     versichert. Zugegeben, auch die vorbeugende Gerechtigkeit bleibt letzthin an Arbeit gebunden, auf Arbeit bezogen, so weit:
     Behelfsform des Neuen. – Von der Erwerbsarbeitsgesellschaft, die sie neu begeistern soll, gleichsam eingefriedet, weist sie
     dennoch listig über diesen eingeschränkten Horizont hinaus. Das Neue können allein Menschen gründen, die gelernt haben, sich
     selber zu regieren; und Menschen, die das von sich hoffen dürfen, erblicken dank dieser präventiven Praxis täglich das Licht
     der Welt.
    Für Länder wie Deutschland mit selbstverschuldetem Entwicklungsrückstand gilt: Öffentliche Auflehnung gegen die Schande der
     sozialen Vererbung! Alle Macht der vorbeugenden Gerechtigkeit! Höheres Steueraufkommen anstatt sinkendes, bis auf