Buerger, ohne Arbeit
der von
immer weniger Menschen erwirtschaftet wird, deren Zahl in Zukunft wirklich sehr klein sein könnte.« 365
2. Der Fordismus revolutionierte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht allein die Arbeitsweise, das Produktionsregime;
er verstand sich als Auflösung des Widerspruchs von Wirtschaft und Gesellschaft, von Arm und Reich. Wer gut arbeitete, sollte
auch gut leben, materiell gesehen; er mußte es sogar, der Akkumulation des Kapitals zuliebe. Produktion UND Absatz verzahnten
sich in der Mitte, in der Arbeit. Die Qualität der Arbeit entschied über die Güte der Produkte, die Quantität über deren Umfang.
Die Lösung des Problems, beides zu steigern, lag in hohen Löhnen. Nur gut bezahlte Mitarbeiter gingen sorgsam zu Werke, ertrugen
die Eintönigkeit und das hohe Tempo der Fertigungsprozesse mit Geduld, in stiller Vorfreude auf den Genuß ihrer nun reichlicher
bemessenen Entschädigung. Die Lohnfrage schafft neun Zehntel der psychischen Probleme |313| aus der Welt, und die Konstruktionstechnik löst die übrigen, das war die Überzeugung. 366 Die Aussichten erschienen um so glänzender, als sie sich auch auf den Absatz erstreckten. Auskömmliche Löhne steigerten die
Produktivität und die Aufnahmefähigkeit des nationalen Marktes. »Autos kaufen keine Autos«, belehrte Henry Ford eine über
seine Lohnpolitik gleichermaßen verblüffte und verärgerte Unternehmerschaft. Daß der Arbeiter die hochwertigen Waren begehrte,
die er herstellte, genügte nicht; um die engen Kapazitätsschranken von Produktion und Nachfrage zu durchbrechen, mußte er
sie auch erwerben können. Der Übergang zu serieller Massenproduktion, zum Massenverbrauch, ruhte auf den Schultern des Arbeiter-Konsumenten,
der seinerseits in Massen, in Kolonnen ging.
3. Die »Masse«: Kaum ein Phänomen aus der Epoche der Hochindustrialisierung hat Künstler, Philosophen, Wissenschaftler in
gleicher Weise beeindruckt, fasziniert, erschreckt. Straßen, Fabrikhallen, Büros, Arenen und Paläste der Zerstreuung – alles
schien von der Masse okkupiert, durchdrungen, in ihren Rhythmus einbezogen, von ihr in Marsch gesetzt. Das Individuum hatte
Gott aus seinem Innersten vertrieben, in den Tod gestürzt; verführt, verzückt von einem Götzen, beging es nunmehr kollektiven
Selbstmord. Die Soziologisierung des Weltbildes, Hinterlassenschaft der vorangegangenen Ära (§ 21.6), ähnelte einer Totenfeier
des Subjekts bei gleichzeitiger Feier oder Verdammnis des großen Anonymus. – Wie fremd ist uns diese Deutung des sozialen
Geschehens, die sich bis weit in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hinein behauptete, doch schon geworden! Selbst dort,
wo Massenbewegungen seither Geschichte schrieben, wie in Mittelosteuropa 1989, wirkten sie wie Relikte eines längst vergangenen
Zeitalters, die sich ein letztes Mal gegen ihr Verschwinden aufbäumten. Und obwohl wir gut beraten sind, Individualisierung
nicht mit Einzigartigkeit zu verwechseln, zuzugestehen, daß der Konformismus mit dem Individualismus gleichen |314| Schritt hielt, so ist doch beides nicht dasselbe. Das von der Masse vereinnahmte Individuum WEISS, erlebt sich körperlich
und ideell als Masseteilchen. Das von sozialem Konformismus erfüllte Individuum DÜNKT sich besonders, stilisiert sich noch
in seinen stereotypen Lebensäußerungen als apartes Wesen; als von anderen stärker abgegrenztes fällt ihm das auch leichter.
Ich mag mich, in der Masse, allein MIT allen fühlen, oder, auf mich zurückgeworfen, allein WIE alle. Ein isolierendes Gefühl,
so wie so; es festzuhalten, auszuleben kostet im ersten Fall erkennbar größere Anstrengungen. Die Normierung der einzelnen,
die sich gestern der Menge bediente, um ihre Zwecke zu erreichen, liiert sich heute vorzugsweise mit der vom Ganzen losgelösten
Existenz, das heißt: mit einem Hirngespinst. »Sei so wie alle!« hieß es einmal, »Sei Du!« so heißt die allerneueste Diät für
das exzentrische Subjekt.
4. Andere Methoden der Normierung, andere Bilder und Metaphern des sozialen Raums. Platzmangel, Bewegungsnot, enorme Reibungswärme,
Kollisionsgefahr – auf dem Punkt der höchsten Kraftentfaltung der Industriemoderne lud sich die Einbildungskraft mit solchen
grellen Phantasien auf. Wir Heutigen konstruieren den sozialen Raum abstrakter, so wie der Physiker das Universum oder der
Neurobiologe das menschliche Gehirn. In unserer Vorstellung ähnelt er nicht länger einer
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