Buerger, ohne Arbeit
weiteres,
und Vorfahrt öffentlicher Güter vor privatem Verzehr! Es bedarf eines Gegenentwurfs zum »Neo«-Reformismus, zur Politik der
staatlichen Entstaatlichung. Bildung entscheidet alles! Eine neue Runde Bildungsstaat! Und öffentliche Betreuung vom frühesten
Lebensalter an. Der private Verzicht, den dieses Projekt den |308| einzelnen auferlegt, befindet sich in völligem Einklang mit dem Gerechtigkeitsverständnis sozialer Demokratien. Die Gerechtigkeit,
gerade die freie, kommt von der Gleichheit nicht los. Die soziale Vererbung in Gesellschaften mit vergleichbarer ökonomischer
Basis gestaltet sich desto unentrinnbarer und schicksalhafter, je geringerer politischer Unterstützung und gesellschaftlicher
Fürsprache egalitäre Normen sich jeweils erfreuen. 358 Der an die Deutschen zu richtende Vorwurf besteht hauptsächlich darin, daß sie sich haben einschläfern lassen: von ihrer
bewunderungswürdigen Tradition als Bildungs- und Kulturnation ebenso wie von der Selbsttäuschung, in einer Gesellschaft mit
breiter Streuung von Chancen und Besitz zu leben. Die Politik ist nur der konzentrierte Ausdruck dieses Schlendrians.
8. »Eine Politik, die der Mitte gefällt, geht notwendigerweise Kompromisse ein.« 359
Desperate to be liked
nennt der Engländer einen gefallsüchtigen Menschen, und um einen solchen handelt es sich bei diesem Autor. Ihn ängstigt, daß
die »Mitte« der Solidargemeinschaft noch unverwandter als bislang den Rücken kehren und ihren Privatfisch schwimmen lassen
könnte: Tagesmütter und teure Schulen für den Nachwuchs, Versicherung zu Sonderkonditionen, Aktienpakete als Ruhekissen für
das Alter. Dadurch würden die öffentlichen Einrichtungen noch mehr als heute zu schlecht gehüteten Asylen für das untere Drittel,
die öffentlichen Versorgungskassen zu Sammelstellen der Armen; eine jetzt schon reale Gefahr. Der Mitte gefallen wollen, durch
eine Politik, die ihr gefällt, heißt, diese Gefahr zu mehren.
Wie wäre es, wenn man sie auf das vereidigte, was der Gesellschaft »gefällt«, auf sozialen Austausch und Zusammenhalt über
Gruppen- und Milieugrenzen hinweg, auf gleiche Chancen zur freien Entwicklung aller? Wenn man alle Kraft darauf verwandte,
die Stätten öffentlicher Bildung und Betreuung in vorbildliche Institutionen zu verwandeln, die jeden Vergleich mit privat
finanzierten bestehen und darüber hinaus den Vorteil der Begegnung der sozialen Kreise bieten? |309| Wenn man die Wohlhabenden von der abenteuerlichen Idee kurierte, ihr Fortkommen und ihre Sicherheit dem Marktglück auszuliefern?
Wenn man endlich aufhörte, die Jungen, Gesunden und Reichen mit Hochmut gegen die Alten, Kranken, Gebrechlichen und Armen
zu infizieren, und sich politisch auf dasjenige konzentrierte, was an der Gesellschaft wirklich und wahrhaftig Gesellschaft
ist – Zusammensein, Zusammenleben von jeglichem mit jeglichem? – Gefallen des Menschen am Menschen statt blöder Gefallsucht,
das wäre wie im Lied vom Kelch, das die Frau Kopecka in Brechts
Schweyk
anstimmt:
Einmal schaun wir früh hinaus
Obs gut Wetter werde
Und da wurd ein gastlich Haus
Aus der Menschenerde
Jeder wird als Mensch gesehn
Keinen wird man übergehn
Ham ein Dach gegn Schnee und Wind
Weil wir arg verfrorn sind
Auch mit 80 Heller!
360
»Jeder wird als Mensch gesehn.« Ob ein politisches Gemeinwesen sich dazu bekennt, zumindest nach innen, der sozialen Vererbung
die Tür weist, läßt sich sehr einfach überprüfen. Allgemeine, öffentliche, frühzeitige, erschwingliche Betreuung von Kindern
im Vorschulalter, diese Kriterien testen den Willen zur kulturellen Moderne mit hinreichender Genauigkeit – armes Deutschland!
9. Im Begriff des Bürgers finden wir den des Kooperierenden, im Begriff des Staatsbürgers darüber hinaus den über die Voraussetzungen
und Zwecke des Zusammenwirkens räsonierenden Bürger. Was aber finden wir im Begriff des Menschen? – Der »Mensch« wartet so
wenig wie der »Arbeiter« oder der »Bürger« darauf, vom Denken nur in Empfang genommen zu werden. Und obwohl man darüber |310| streiten kann, ob er, wie Foucault meinte, eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts oder nicht doch älteren Datums ist,
so viel ist wahr: Er kommt als ungelöstes Rätsel auf die Welt, als Souverän und Untertan. Es ist ein und dasselbe Individuum,
das lebt, arbeitet und spricht. Aber als Lebewesen gehorcht es den Gesetzen der Biologie, als Arbeitender den
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