Buerger, ohne Arbeit
als auf
die nächste Frage: Bewegen wir uns in die Richtung eines gesellschaftlichen Lebensprozesses, der vom Kapitalinteresse neuerlich
überwältigt wird? Man muß sich |341| gegen die Realitäten schon ziemlich verhärten, um die zahlreichen Analogien übersehen zu können, die zwischen unserer historischen
Konstellation und jener bestehen, die sich in der Frühzeit des industriellen Kapitalismus herausbildete: Führung des ökonomischen
Sektors im Vergesellschaftungsprozeß bei zeitgleichem Zurückfallen politischer und rechtlicher Koordinationen; Politik der
staatlichen Entstaatlichung; Entkollektivierung der Arbeitsverhältnisse; Erosion der bürgerlichen Form der Lohnarbeit; Abkopplung
der Lohnentwicklung vom Produktivitätsfortschritt für die Mehrheit der Beschäftigten; erzwungene Gratisarbeit; neue Armut.
Angesichts dieser Parallelen überrascht es kaum, daß die große Streitfrage aus der Epoche des klassischen Kapitalismus in
die zeitgenössische Debatte zurückkehrte: Wie verwertet das Kapital sein Mehrprodukt, seinen Gewinn, wie findet das Produkt
zum Konsumenten?
§ 43 Konsumtion als Bürgerpflicht
1. Der neuzeitliche Kapitalismus hatte sich zum industriellen kaum gemausert, da bewies man seine Unmöglichkeit zu dauern.
Er bannte das Leben der Arbeiterschaft in die Grenzen des physischen Minimums, bestritt der nichtarbeitenden Oberschicht ihren
geachteten Platz in der Gesellschaft und zwang seinen eigenen Funktionären, den Unternehmern, strengste Askese auf. Gleichzeitig
überrannte er alle geschichtlich eingezeichneten Markierungen der Reichtumsproduktion, machte er sich anheischig, die Welt-
als Marktgesellschaft herzustellen. Auf die dringlichste Frage, von ihm selber aufgeworfen, verweigerte er indes die Antwort,
ja, er schien sie nicht einmal zu kennen: Wer konnte, wer sollte den potentiell unermeßlichen Reichtum konsumieren? Und wenn
er die Antwort schuldig blieb, was stand ihm anderes bevor als das Schicksal aller Möchtegerne; er würde sich, bald schon,
an seiner Maßlosigkeit verschlucken. Wollte |342| er seiner unmittelbar bevorstehenden Nemesis entgehen, mußte er all jenen Stimmen Gehör schenken, die von der Unentbehrlichkeit
unproduktiver Klassen zu berichten wußten. Mochten Luxus und Verschwendung in der neuen Zeit als Laster umgehen; sie schöpften
den überschüssigen Reichtum ab, mehr noch, sie ließen ihn, seiner konsumtiven Bestimmung gewiß, erst richtig sprudeln. Wer
sich, nur zum Vergnügen, ein Dutzend prächtiger Kutschen hielt, förderte den Wohlstand seiner Nation in gleicher, wenn nicht
fruchtbringenderer Weise als jener, der schlichtes Leinen produzierte. Anders als der mechanische Webstuhl, der seine Operateure
zu schlecht bezahlten Arbeitstieren degradierte, warf das gehobene Handwerk veritable Revenuen ab – für die geschickten Hände
und besonders für den Unternehmer. Die gaben wieder anderen Arbeit, und so zeugte sich der Reichtum fort. Selbst das Verbrechen,
die Domäne unproduktiver Armer, war nicht zu verachten. Es regte zum Bau von Gefängnissen an, beschäftigte Aufseher und zuvor
noch Maurer, Zimmerleute, Architekten.
Bernard Mandeville, gebürtiger Niederländer, Brite aus Passion, war nicht der erste, der die bürgerliche Klasse mit derlei
Vorschlägen schockierte. 398 Da er das Metier brillant beherrschte, in dem er sich versuchte, die satirische Provokation, erinnern wir uns seiner nur
genauer. Fortlaufende Beachtung erwarb er sich zudem durch sein Gesellschaftsbild. Was macht den Menschen zu einem geselligen
Wesen, war seine Ausgangsfrage. Und die Antwort erteilten nicht Altruismus und Selbstgenügsamkeit, sondern Egoismus, Neid
und Gier. Das klang übel, war dem Geist der Aufklärung aber keineswegs fremd. Kants »ungesellige Geselligkeit« resümierte
dieselbe dialektische Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft wie Smith’ »unsichtbare Hand« oder Marx’ Theorem vom tendenziellen
Fall der Profitrate. 399
2. Nicht alles ist stimmig bei Mandeville, manches undurchdacht, manches wieder sehr weitsichtig formuliert. Klug, vorausschauend
war seine Kritik am bürgerlichen Sparzwang |343| (»Denn je mehr Geld von einigen aufgehäuft wird, um so spärlicher muß es unter den übrigen werden.« 400 ), und es war kein Zufall, daß einer der einflußreichsten Ökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts, John Maynard Keynes, gerade
daran anschloß. Weitblickend auch seine Vision des
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