Buerger, ohne Arbeit
zugleich zum unverrückbaren
Maß der Konsumtion erklärt? Relativ zu dem, was er seinen nationalen Bevölkerungen an materiellen Lebensmöglichkeiten einzuräumen
bereit ist, produziert er scheinbar immer viel zu viel, gemessen an seinen technisch-technologischen Potenzen sowie an den
von ihm selbst geweckten Bedürfnissen produziert er viel zu wenig, erweist er sich als kleinlich, geizig, zugeknöpft.
|339| In seiner Jugendperiode stand ihm diese Attitüde, indirekte Kosten, menschliche Opfer einmal ausgeklammert. »Produktion als
Selbstzweck, nicht um des guten Lebens willen«, hieß die Parole, unter der das neue historische Prinzip die Seinen um sich
scharte und in den Kampf gegen die erschlaffte, parasitäre Welt des späten Absolutismus führte. Nachdem sein fanatischer Produktionswille
den Kapitalismus Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis unmittelbar vor den Abgrund geführt hatte, besann er sich durchdachterer
Methoden. Nun sollte, wer zuverlässig arbeitete, auch leben wie ungefähr ein Mensch. Das zwanzigste Jahrhundert begrüßte das
zunächst abgerungene Zugeständnis an die Konsumtion der breiten Massen wie eine lange herbeigesehnte Offenbarung, bestimmt
für einige auserwählte Abteilungen des weltweiten Proletariats: Laßt euch vom Konsum verführen! Arbeitet hart, aufopferungsvoll,
angetrieben, begeistert von den Früchten, die euch dadurch werden! Es verwässerte die frohe Botschaft, noch ehe es zu Ende
ging. Mit zunehmendem Alter vom Konsum besessen, war das Kapital doch weise genug geworden, die alte Regel einzuschränken.
Für alle reicht die gute Arbeit nicht!, so hieß es jetzt und: Mindere Arbeit will verrichtet sein wie jede andere auch; nur
muß das Leben, das sie gründet, kürzer treten lernen, und wenn die Menschen sich zu schade dafür sind, dann wird ihr Leben
eben wieder fraglich.
5. Daß aus dem Leben wieder eine Frage wurde, läßt sich an nichts deutlicher ablesen als an der jüngsten Karriere des Wortes
»Kapitalismus«. Noch vor zwei, drei Dekaden konnte man den Eindruck gewinnen, es sei aus dem Sprachgebrauch der reichen Industriegesellschaften
verschwunden. Die Eliten hüteten sich, den alten Kampfbegriff wieder zu Ehren zu bringen, und selbst im Mund ausgewiesener
Systemkritiker zerfiel das Wort zu Asche. Eine Gesellschaft, die auf kapitalistischer Warenproduktion beruhte, war eben nicht
dasselbe wie eine kapitalistische Gesellschaft, und genau diesen Unterschied galt es hervorzuheben. So sprach man, je nach
Gusto, |340| von postindustrieller Gesellschaft, Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, erster oder zweiter
Moderne oder, falls doch einmal vom Kapitalismus, dann unter Hinzufügung relativierender Attribute: entwickelter, fortgeschrittener,
moderner Kapitalismus.
Heute ist der »Kapitalismus« wieder in Mode: so wie das, was er bezeichnet. Die Eliten bedienen sich des Wortes ohne weitere
Erläuterung, frei von Scham und Vorsicht, und geben dadurch zu erkennen, wie sie die Übergangsepoche deuten, in der wir uns
befinden: als Passage von einem Kapitalismus, der auf sozialen Krücken ging, zu einem Kapitalismus ohne Notbehelfe. 397 Für die kritischen Gemüter wurde das K-Wort, begrifflich aufgefaßt, was es schon einmal, zu Marx’ Zeiten war, ein Werkzeug
sachbezogener Analyse. Als sei nach einer langen Zeit der Ungewißheit endlich ein klares Wort gesprochen, spannte man die
einstige Reizformel wieder ins theoretische Geschirr nüchterner Gegenwartsbeschreibung ein.
Nur muß es dabei schon überaus genau zugehen, wie stets, wenn es um Worte geht. Wer sie besetzt, regiert den Diskurs, wer
den beherrscht, bestimmt in der sozialen Welt. »Kapitalismus«, die Verwendung dieses Terminus macht Sinn nur unter ausdrücklichem
Bekenntnis zu seiner direkten Konsequenz: der Behandlung und Vergütung des menschlichen Arbeitsvermögens als einer ganz gewöhnlichen
Ware, deren (Tausch-)Wert mit ihren durchschnittlichen Wiederherstellungskosten zusammenfällt. »Kapitalismus« bedeutet Verewigung
der Armut als Grundbedingung zur Schaffung steil anwachsenden Reichtums. Arbeiter im Kapitalismus zu sein bedeutet ein Unglück,
das wußte Ricardo, der es für unabänderlich hielt, so gut wie Marx, der auf den revolutionären Zündstoff dieses kollektiven
Schicksals reflektierte.
Leben wir, diesen Zusammenhang im Blick, wieder im Kapitalismus? Die Antwort, noch, heißt nein und erfolgt prompter
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