Buerger, ohne Arbeit
der Proletarier versteht sich das ohne umständliche Worte; sie haben große Not, ihr
pures Leben durch Arbeit zu begründen. Produktiver Arbeiter zu sein bedeutete über viele Arbeitergenerationen hinweg ein unentrinnbares
Verhängnis, ein manifestes Pech.
Doch auch der Bourgeois, als Idealtyp aufgefaßt, ist kein Genießer. Sein Daseinsrecht und seine Privilegien fließen unmittelbar
aus seiner historischen Mission, der Akkumulation von Kapital, der rastlosen Schöpfung materiellen Reichtums. Produktion um
der Produktion halber heißt
sein
Gesetz; die individuelle Konsumtion steht hintenan. Sparsamkeit, schnörkelloser Lebensstil, methodische Lebensführung im Dienst
des Unternehmens, der Geschäfte, präzise Rechnungsführung über Tag und Stunde, über Vollbrachtes und Versäumtes – das wird
ihm zugemutet, abverlangt. Die Franklinisierung des Selbst (§ 12: 9), weit davon entfernt, eine Schrulle einzelner zu sein,
verwirklichte die Imperative dieser strengen Standesethik im bürgerlichen Alltag. Alltägliche Praxis geworden führten diese
Grundsätze einen unerbittlichen Kreuzzug gegen alles Glänzende, Luxurierende, gegen alles, was sich selbst genügte, frei und
zwecklos in der Landschaft stand, weder nach Auftrag noch Interesse noch nach Verwendungszwecken fragte. Der Tugendkanon der
produktiven Arbeit kujonierte auch das Bürgertum mit herben Zumutungen und einem barschen Ton.
Die Folgen dieser kulturellen Prägung betreffen noch uns Heutige; die Verschmelzung von »Produktivität« und »Arbeit« gehört
zu den auffälligsten. Wir fühlen uns »produktiv«, sofern und solange wir »arbeiten«, und »richtige Arbeit verlangt für uns
nach einem Ausweis, dem ihrer »Produktivität«. Sie muß mehr einbringen, als sie an Mitteln einsetzt, sonst gilt sie als mißlungen,
als unnütz, als unfreiwilliger Müßiggang; die verbreitete Neigung, »Muße« mit »müßig« gleichzusetzen, mit »vergeblich«, referiert
denselben Sachverhalt mit anderen Worten. Die Dinge einfach geschehen und uns |368| selbst treiben zu lassen, gilt vielfach als Diebstahl an der Zeit, als Ausdruck eines zutiefst unproduktiven Selbstverhältnisses.
Wir hätten besser daran getan, die Zeit mit ordentlicher Arbeit auszufüllen.
Diese kulturelle Disposition verursachte eine enorme Verarmung unserer Vorstellung von der Eigenart und Vielfalt menschlicher
Produktivität, vom Produzieren als höchstem Ausweis schöpferischer Existenz. Mit unserem Groll auf Müßiggänger und Faulpelze
geben wir indirekt zu verstehen, daß wir die Fähigkeit, das Leben als solches zu genießen, weithin verloren haben, daß wir
für die Begegnung mit dem Zufall und dem »Sein« innerlich nicht mehr gerüstet sind.
6. Die genießenden Stände der Gesellschaft bildeten seit je die bevorzugte Zielscheibe der moralischen Empörung, und die Lohnarbeitsgesellschaft
steigert den Affekt zum Furor. Dabei bewegt sie sich von Anbeginn in einem Widerspruch. Sie vergöttert die ihr einzig angemessene
Form des Genießens, die Konsumtion, und ihren Träger, den Konsumenten, und schwatzt ihm immer neue Objekte der Begierde auf.
Dessen ungeachtet beargwöhnt sie den Verzehr als eine Verschwendung von Ressourcen, die bei strikterer Genußkontrolle der
Produktion zugeflossen wären. Im Frühstadium des modernen Kapitalismus entzündete sich an diesem Prioritätenkonflikt eine
leidenschaftliche, bis auf den Tag aufschlußreiche Debatte.
Sie war, wie mehrfach angedeutet, seit längerem im Gange, als Saint-Simon das Wort ergriff. Seine Attacke gegen die dekadente
Aristokratie und gegen Bürgerliche, die wie Adelige in ihrem Reichtum schwelgten, richtete sich ungebremst auch gegen Offiziere,
Richter, gegen alle Staatsbeamten. Sie fielen ohne Unterschied unter dieselbe Kategorie überflüssiger, weil unproduktiver
Menschen. Adam Smith schalt Unternehmer, die ihr Geld für Dienstboten ausgaben, statt es als Kapital zu investieren. Beide
erregten sich maßlos über Autoren, die Lakaien, Spekulanten und Rentiers zur unumgänglichen Voraussetzung für eine gedeihliche
Entwicklung |369| der Kapitalwirtschaft erklärten. Irgend jemand müßte den angehäuften Reichtum doch schließlich konsumieren oder, als Angestellter
reicher Leute, davon profitieren. Würden alle sozialen Gruppen immerzu ans Sparen denken, blieben die Waren unverkäuflich
und die Produktion verlöre ihr Motiv und ihren Ansporn. Kaufen und Verbrauchen als
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