Buerger, ohne Arbeit
Dienstverhältnis? Wie steht es mit dem Arzt und mit dem Lehrer? Heilen und unterrichten sie wirkungsvoller
und also profitabel, wenn der eine seine kleine Praxis schließt und in eine kommerzielle Klinik überwechselt, der andere sein
Dasein als Hauslehrer gegen ein Lehramt in einer Privatschule tauscht? – Vergleichbare Effekte wie im Fall der Köchin lassen
sich vermuten, beim Klinikarzt mit höherer Wahrscheinlichkeit als beim Privatschullehrer. – Was aber, wenn beide zuvor in
ÖFFENTLICHEN Einrichtungen arbeiteten und die Vorzüge der Kooperation, der gemeinsamen Ressourcennutzung schon erfuhren und
verinnerlichten? Dann ereignete sich der Qualitäts- und Leistungssprung, der sie zu produktiven Arbeitern stempelt, ja bereits!
Dank ihres Wechsels in die Privatwirtschaft verhelfen sie ihren respektiven Lohnherren zu Profiten, was diese erfreut, nur
ist »Profit« in diesem Fall nur ein anderer Name für das Mehr an Leistung, das sie als kommunale Arbeitskräfte der Allgemeinheit
zur Verfügung stellen. Plötzlich erscheinen die Schöpferkräfte des Kapitals, soeben noch real, ganz ungreifbar und rätselhaft,
irgendwie anmaßend.
8. Die Anmaßung, die im Kapitalverhältnis steckt, tritt um so unverkennbarer zutage, je mehr wir uns Praktiken zuwenden, die
mit der Person verschmelzen, die sie ausübt, die den ganzen Menschen engagieren. Bietet die »Hure« (beliebtes theoretisches
Exempel im »prüden« neunzehnten Jahrhundert!) ihre Dienste allein deshalb »produktiver« feil, weil sie |372| für einen Bordellbesitzer anschafft? Zweifellos, sagt der Nationalökonom und sagt auch Marx, sein Kritiker, und setzt das
Freudenhaus in dieser Beziehung ohne Bedenken Opern- und Schauspielhäusern gleich. 436 Und der Schauspieler, der darin auftritt, der Musikant, der Dichter, der Naturforscher, der Philosoph – haben sie, um der
vollen Entfaltung ihrer Kräfte willen, nur auf das Kapital gewartet? Rüstet sie das Kapitalverhältnis mit speziellen Fähigkeiten
und Talenten zum Produzieren aus?
Das steht hier nicht in Frage, entgegnet Smith, und Marx, zu intellektuellen Pirouetten aufgelegt, stimmt zu: »Ein Schauspieler
z. B., selbst ein Clown ist … ein produktiver Arbeiter, wenn er im Dienst eines Kapitalisten arbeitet, dem er mehr Arbeit
zurückgibt, als er in Form des Salairs von ihm erhält …« 437 »Ein Schriftsteller ist ein produktiver Arbeiter, nicht insofern er Ideen produziert, sondern insofern er den Buchhändler
bereichert, der den Verlag seiner Schriften betreibt, oder sofern er der Lohnarbeiter eines Kapitalisten ist.« 438
Da ist man, bei allem Verständnis für das geschichtlich Berechtigte wie Bedingte dieser Ansicht, doch einigermaßen fassungslos.
Denke, dichte, liebe für einen Unternehmer – und du bist »produktiv«! Tu das für dich selber – und du verläßt das Reich der
produktiv Schaffenden, gehst ein ins Heer der unproduktiven Dienstleute!
Wohlgemerkt, es geht hier nicht um »Artenschutz«, um falsche Scham. Solange es sich allein um die Möglichkeit handelt, aus
allem und jedem Profit zu schlagen, mögen der Schauspieler und der Schriftsteller ruhig neben der Hure stehen und alle gemeinsam
auf einer Stufe mit der Köchin und dem Schneider. Nur ist das nicht der springende Punkt. Ein Verleger, der einen Autor unter
Vertrag nimmt, für dessen Schriften wirbt und ihren Absatz in einem arbeitsteiligen Unternehmen organisiert, mag dadurch reich
werden, durchaus zum Nutzen des Schriftstellers, der seine Auflage gesteigert sieht. Für den zugrundeliegenden Denk- und Schreibprozeß |373| ist dies erfreuliche Finale ganz bedeutungslos – sofern die geistige Autonomie des Ideenproduzenten unangetastet bleibt. Oft
genug belagert das Profitinteresse das Selbstbestimmungsrecht des Produzenten, schielt der Verleger nach dem Markt, nach Trends
und Moden, und drängt seine Autoren, dem Publikum Gefälligkeiten zu erweisen. Oder er publiziert von vornherein nur Texte,
die dem kulturellen
common sense
gehorchen. Seine sozialen Verwandten, der private Schauspieldirektor und Galerist, die ihr vorgeschossenes Kapital verwerten
wollen, hüten sich ebenso geflissentlich, der werten Kundschaft Werke vorzusetzen, die weder den Geschmack noch das Gerede
kitzeln. So geht es fort durch das gesamte kulturelle Feld. Das Kapital ist der Propagandist des immer Neuen und des Allerneuesten
und zugleich der Widerpart des wirklich Originellen, Ungewohnten,
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