Buerger, ohne Arbeit
für schön. Ihn fasziniert das genaue Gegenteil, |84| der Ausstieg aus der Lohnarbeitsgesellschaft. Bei der Konkretisierung dieser Utopie zeigt er sich erneut unschlüssig, in doppelter
Hinsicht und auf eine Weise, die das Problembewußtsein schärft. Er kleidet Wann und Wie des Übergangs in zwei einander widersprechende
Varianten. In der optimistischsten Lesart ragt die Zukunft schon tief in die Gegenwart hinein, hat sie längst von ihr Besitz
ergriffen. Eine wachsende Zahl von Menschen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften löse sich von der Zwangsvorstellung,
ein gelungenes Leben sei identisch mit dem Streben nach Karriere und Vollzeitbeschäftigung. Sie betrachteten ihre Arbeit mit
großer Nüchternheit, als Mittel zum Lebensunterhalt, und lehnten es ab, vom Unternehmen persönlich vereinnahmt zu werden.
Die Einheit von Arbeit und Leben durchschauten sie als Herrschaftstechnik, der sie die Forderung nach glaubwürdiger Selbstbestimmung
entgegensetzten. Vor allem die gut ausgebildeten Jüngeren trügen die Fackel der 68er Revolte weiter, indem sie Modelle befreiten
Daseins praktizierten, an denen gemessen selbst die anspruchsvollste Lohnarbeit als reiner Notbehelf erscheint, wie ein Leben
im Futteral. »Kurzum, ein kultureller Wechsel hat bereits stattgefunden.« 77
In der zweiten Variante läßt die Zukunft auf sich warten. Hier halten die Menschen zäh an der Arbeit fest, und zwar unabhängig
davon, ob die konkrete Verrichtung befriedigt oder abstößt. Das Verhältnis gestaltet sich innig statt nur instrumentell, weil
Arbeit die einzelnen auf vielfältige Weise in die Gesellschaft integriert, mit Rechten und Zugangschancen aller Art versieht
(§ 6). Mag die Einheit von Arbeit und Leben Propaganda sein, das Leben hängt an der Arbeit, am Arbeitsplatz. Je bedrohter
er ist, desto begehrlicher erscheint er, desto mehr wird er zum Wert an sich. 78 Was nun? Endspiel der Arbeitsgesellschaft oder Arbeit ohne Ende? Oder gibt es einen dritten Weg, auf dem sich das Leben sozial
gegründet und also furchtlos aus der Umklammerung durch die Arbeit befreit? Es gibt ihn, aber wie |85| jeder Weg, so kann auch dieser in zwei Richtungen beschritten werden.
3. »Alle arbeiten!«, »Arbeit ist nicht alles!« Diese beiden Dekrete weisen die erste, schon vertraute Richtung (§ 8.1). Wer
sie einschlägt, befreit sich von der Arbeit IN der Arbeit, überwindet die Arbeitsgesellschaft nur innerhalb ihrer Grenzen.
Statt den Menschen zu vereinnahmen, verwandelt sich der Arbeiter in eines seiner Attribute; arbeiten, das kann er AUCH, der
Mensch. Nur MUSS er es auch, um sich vom Naturwesen zum Bürger zu mausern, der allein Rechte besitzt, Rechte, die ihrerseits
ein bestimmtes, nicht allzu großes Quantum Arbeit als Gegenleistung fordern. Der Zirkel von Rechten und Arbeit wird nicht
durchbrochen; um das Recht auf Arbeit erweitert, gewinnt er nur an Umfang. Der Arbeiter tritt hinter den Menschen zurück,
um sich vor den Bürger zu stellen, der vom Menschen zuerst als Arbeiter weiß. Das Recht auf Leben, auf arbeitsfreie Subsistenz,
kann vor diesem Horizont nur als Verirrung erscheinen, als eine Art Stillegungsprämie des Bürgers, als eine »Idee von rechts«. 79
Ein zwingendes Denkgebäude, wenn man seine Prämissen akzeptiert; eine einzige Bruchlandung der Utopie, sofern man sie verwirft.
Wer den gesellschaftlichen Daseinsbeweis des Menschen nur auf dem Umweg über die Arbeit zu führen versteht, unterwirft sich
dem Einheitsdenken und hat den Kampf um eine andere Zukunft schon verloren. Indem er die soziale Bindungsfähigkeit der Individuen,
ihre Produktivität, ihr aktives In-der-Welt-Sein alternativlos an ihre Funktion im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
knüpft, verstrickt er sich hoffnungslos ins Netz, an dem die Spinne Arbeit webt. – Erst spät findet Gorz aus dieser Verstrickung
heraus, bricht er mit der Forderung eines bedingungslos gesicherten Grundeinkommens für alle in die entgegengesetzte Richtung
auf.
4. Um ihrer selbst wie um ihrer praktischen Orientierungsfunktion willen, sieht sich die Theorie zum Denken |86| in und mit Alternativen veranlaßt, spielt sie Möglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zugespitzter, konfrontativer
durch als die unmittelbare Akteurssicht das ermöglicht bzw. erfordert, trennt, entzweit sie zum Zwecke größerer Klarheit,
was »an sich« zusammengehört oder doch miteinander auskommen kann. Die
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