Buerger, ohne Arbeit
erwirbt. In eine moderne Gesellschaft hineinzuwachsen bedeutet, immer ICH und Ich zu sein. »Das
›Ich‹ reagiert auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen
übernehmen, führen wir das ›ICH‹ ein und reagieren darauf als ein ›Ich‹.« 74 Kollektive Identität von persönlicher Identität gänzlich losgelöst, Aneignung ohne Reaktion, ist eine Fiktion der schwarzen
Phantasie.
|82| 7. Sozialisation erzwingt Sozialisierung, Personalisierung, Antwort, Stellungnahme, Reaktion; statt den Menschen und mit ihm
die Gesellschaft auszulöschen, ist sie Teil des soziologischen Menschenbildes. Untersuchungen zur sprachlichen Sozialisation
bestätigen dieses Urteil. Im Prozeß des Sprachlernens eignet sich das Individuum Worte und Wortverbindungen im unmittelbaren
praktischen Gebrauch an, eingebettet in einen überschaubaren Kontext und in kleine Gruppen. Es übernimmt konventionelle Bedeutungen
und beschränkte Gebrauchsweisen. Im weiteren Verlauf emanzipiert sich der Sprechende vom Unmittelbaren, eignet er sich das
ganze Medium mit seinen inneren Verweisungen und Verknüpfungen an. Der einst »sympraktische« Sprachgebrauch wird zum »synsemantischen«;
das Sprach-ICH ist fertig konstituiert. Gleich dem operativen Handeln tritt nun auch das Sprachhandeln in die nächste, höhere
Phase ein, betritt das Ich die Bühne, um das konventionelle System seinen Bedürfnissen gemäß zu formen, zu entwickeln, durch
symbolische Eigenarten und Neuerungen herauszufordern. 75 Kein ideologisches Spalier kann das verhindern. Im Gegenteil: politische Sprachregelungen und -diktate haben noch immer als
Werkzeuge wider Willen zur Entbindung »persönlicher«, sozial »authentischer« Sprachen funktioniert, die Literatursprachen
im Staatssozialismus gaben dafür nur das jüngste Beispiel.
Es ist also nichts mit der eindimensionalen Identität, mit dem abstrakten Gegensatz von (moralischer) Autonomie und Vergesellschaftung.
Das Individuum ist denk- und handlungsfähig, zu Neuem imstande gerade aufgrund seiner widersprüchlichen Erfahrungen IM Sozialisationsprozeß,
seines Eingebundenseins in ihn. Die heutige Gesellschaft führt nicht als solche Krieg gegen das Individuum, und die Soziologie
ist nicht der Komplize des »Terrors«. Die Verhandlung über das Neue und über die Art, es zu entbinden, kann mit soziologischen
Denkmitteln fortgesetzt werden.
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§ 10 Die umzingelte Lohnarbeit
1. Wie gelangt man, vom realen Kapitalismus ausgehend, zur Überwindung des Kapitalverhältnisses, dieses sozialen Prägestocks
der Moderne? – so fragt André Gorz seit nunmehr vier Jahrzehnten. Der Postfordismus erwies sich insofern als besonders sperriges
Objekt, als er die Gegenfrage aufwarf: Kann sich die kapitalistische Produktionsweise unter Umständen so weit zivilisieren,
daß die Überwindung der Gesellschaft, der sie zur Grundlage dient, aufhört, ein erstrebenswertes Ziel zu sein? Die modifizierte
Arbeitsweise BEDEUTETE einen Fortschritt, propagierte ein neues Ideal, das ansteckend auch auf jene wirkte, die trivialer
Arbeit einstweilen unterworfen blieben. »Gute« Arbeit, von unten gesehen, war nunmehr Beschäftigung, die den ganzen Menschen
involvierte; je umfassender das geschah, desto höher stand sie im Ansehen. »Tatsächlich ist die Persönlichkeit mittlerweile
zum wesentlichen Bestandteil der Arbeitskraft geworden«, räumt Gorz Ende der neunziger Jahre mit einer nicht ganz treffenden
Formulierung ein. 76 Geht es doch weniger um vollendete Tatsachen als vielmehr um Wünsche, um Erwartungen, um ein neues kulturelles Versprechen
der Arbeit. Das Kapitalverhältnis betrachtet dies Versprechen unter Effizienzgesichtspunkten und löst es nur in Raten ein,
gewiß, aber ebenso gewiß dient es ihm als Wirt, in dem es sich ausbreiten und bekanntmachen kann. Warum sollte der Wirt den
Gast, von dem er lebt, vertreiben, warum der Gast nicht reklamieren, weiterdrängen? Könnten, mit anderen Worten, starke Gewerkschaften,
politische Linksbündnisse im Verein mit sozialen Bewegungen und einer kritischen Öffentlichkeit der Kapitallogik nach der
taktischen Zivilisierung nicht auch noch zur strategischen verhelfen? Befreiung IN der Arbeit, für immer umfassendere Fraktionen
von Arbeitern und Angestellten – ist DAS nicht die Allee ins »Paradies«?
2. Gorz glaubt an diese schöne Aussicht nicht, er hält sie nicht einmal
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