Buerger, ohne Arbeit
Selbstauskünfte
aus der New Economy vermitteln einen ungefähren Eindruck vom Tumult hinter den Kulissen. 87 Einer schmalen Spitzengruppe, die jederzeit ein- und aussteigen kann, steht die Masse derer gegenüber, die die Vereinnahmung
ihres Leben alternativlos akzeptieren muß. Je weiter man sich von den höheren Angestellten weg- und zum Fußvolk hin bewegt,
desto vernehmlicher äußert sich der Unmut über eine Vermischung von Arbeit und Leben, die sich zu keiner höheren Synthese
fügt. Das Gefühl, nie |93| richtig frei zu haben, aber auch nie richtig zu arbeiten, breitet sich mit wachsender Geschwindigkeit aus. »Lebst du schon,
oder arbeitest du noch?« heißt das Kennwort in den unteren Etagen der Angestelltenwelt, wo man auch dem zur Norm erhobenen
Normverstoß, der Pflicht zur Informalität kaum mehr als ein ratloses Achselzucken abtrotzen kann. Die Einheit von Arbeit und
Identität, der Ehrenpunkt des neuen Angestellten, erweist sich für diese Getriebenen ebenso als falscher Schein wie die Versöhnung
von Materialismus und Moral. Der »ganze Mensch«, das ist für sie ein Opfergang, ein schamloses
Quidproquo
, das die Aufspaltung des Individuums, seine innere Zerrissenheit ideologisch verdeckt.
Die erste größere Untersuchung zum »Kastensystem der Neuen Medien« erhärtet diese Klagen. 88 Ganz unten in der Hierarchie des digitalen Kapitalismus siedeln die »Müllmänner«, die endlos Datensätze in die Tastaturen
tippen. Überarbeitet, leicht ersetzbar, schlecht entlohnt, unter enormem Zeitdruck stehend, sind sie mit der Arbeit niemals
fertig, nie am Ziel. Kaum eine Handbreit höher findet man die »Cyber-Cops«, Netzspione, die unter Kollegen dieselbe Achtung
genießen, die ein Privatdedektiv in den Augen eines ordentlichen Polizeibeamten verdient. Permanenten Umstrukturierungen,
jähen Auf- und Abstiegen blindlings unterworfen, peinigt sie das Gefühl, nichts Sinnvolles mit ihrem Leben anzufangen. Auf
der nächst höheren Stufe stehen die »Chatroom-Sklaven« und »Forum-Leiter«, Zeitarbeiter zumeist, die ihren Job oftmals noch
mehr verachten als das Geschwätz ihrer anonymen Kundschaft. Es folgen die »Taxifahrer«, die heute hier und morgen dort eine
Webside erstellen, die Programmierer von komplizierter Software und Betriebssystemen, die Gruppe der Reparaturspezialisten
mit ausgeprägter Chaosqualifikation, schließlich das Leitungspersonal und die Firmenchefs. Je näher man der Spitze dieser
Pyramide kommt, desto häufiger begegnet man Menschen, die ihr Dasein dem Unternehmen widmen, |94| die ihre Arbeit mit Leidenschaft, ja Besessenheit verrichten, desto dünner wird aber auch die Luft für arglose Naturen, für
menschliche Kontakte jenseits zweckdienlicher Beweggründe.
So wenig Leben und Beruf, abstrakt gesehen, die Existenz entzweien, so wenig gelangen sie konkret zu voller Deckung. In der
Fülle seiner Möglichkeiten überragt das Leben jede Arbeit. Wird es ohne Rückstand von ihr aufgesaugt, dann zeugt das immer
von verkannten und verschenkten Lebenschancen, von Gewalt, die dem einzelnen widerfährt oder die er sich selbst zufügt. Ganz
ohne Kränkungen, Verletzungen, Schmerzen kann der Produktionsprozeß des postfordistischen Subjekts nicht gelingen. Die Wunden,
die er der menschlichen Integrität schlägt, mögen auffälliger oder beiläufiger sein, langsamer oder schneller vernarben; aus
ihnen speist und erinnert sich die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Sie durchbricht die Verkennung oder schafft, wenn
sie latent bleibt, mindestens die Möglichkeit dazu. Auch in seinem jüngsten Stadium scheitert der Kapitalismus an der historischen
Schallmauer der Selbstimmunisierung gegen Leid. Arbeit bleibt ein Herd von Widersprüchen. Es rumort im Zentrum des Erwerbssystems
noch immer hörbarer und vermutlich folgenreicher als an der Peripherie oder jenseits seiner Grenzen.
6. Aber vielleicht übertreibt der Wunsch das gesellschaftliche Konflikt- und Veränderungspotential der »Lohnarbeit«, verdunkelt
er in seinem Überschwang ein sehr viel radikaleres Emanzipationsprojekt, das sich mit der abgestuften Freiheit in der Arbeit
nicht begnügt und die Arbeit endlich selbst befreit? Wenn das Leben nicht gänzlich Arbeit werden kann, ohne dabei zu verkümmern,
dann liegt das möglicherweise daran, daß man der Arbeit nur ein kümmerliches Dasein zugesteht und das ganze, ungeteilte Leben
aus ihr ausschließt. Führt man ihr die Energien
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