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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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Selbstauskünfte
     aus der New Economy vermitteln einen ungefähren Eindruck vom Tumult hinter den Kulissen. 87 Einer schmalen Spitzengruppe, die jederzeit ein- und aussteigen kann, steht die Masse derer gegenüber, die die Vereinnahmung
     ihres Leben alternativlos akzeptieren muß. Je weiter man sich von den höheren Angestellten weg- und zum Fußvolk hin bewegt,
     desto vernehmlicher äußert sich der Unmut über eine Vermischung von Arbeit und Leben, die sich zu keiner höheren Synthese
     fügt. Das Gefühl, nie |93| richtig frei zu haben, aber auch nie richtig zu arbeiten, breitet sich mit wachsender Geschwindigkeit aus. »Lebst du schon,
     oder arbeitest du noch?« heißt das Kennwort in den unteren Etagen der Angestelltenwelt, wo man auch dem zur Norm erhobenen
     Normverstoß, der Pflicht zur Informalität kaum mehr als ein ratloses Achselzucken abtrotzen kann. Die Einheit von Arbeit und
     Identität, der Ehrenpunkt des neuen Angestellten, erweist sich für diese Getriebenen ebenso als falscher Schein wie die Versöhnung
     von Materialismus und Moral. Der »ganze Mensch«, das ist für sie ein Opfergang, ein schamloses
Quidproquo
, das die Aufspaltung des Individuums, seine innere Zerrissenheit ideologisch verdeckt.
    Die erste größere Untersuchung zum »Kastensystem der Neuen Medien« erhärtet diese Klagen. 88 Ganz unten in der Hierarchie des digitalen Kapitalismus siedeln die »Müllmänner«, die endlos Datensätze in die Tastaturen
     tippen. Überarbeitet, leicht ersetzbar, schlecht entlohnt, unter enormem Zeitdruck stehend, sind sie mit der Arbeit niemals
     fertig, nie am Ziel. Kaum eine Handbreit höher findet man die »Cyber-Cops«, Netzspione, die unter Kollegen dieselbe Achtung
     genießen, die ein Privatdedektiv in den Augen eines ordentlichen Polizeibeamten verdient. Permanenten Umstrukturierungen,
     jähen Auf- und Abstiegen blindlings unterworfen, peinigt sie das Gefühl, nichts Sinnvolles mit ihrem Leben anzufangen. Auf
     der nächst höheren Stufe stehen die »Chatroom-Sklaven« und »Forum-Leiter«, Zeitarbeiter zumeist, die ihren Job oftmals noch
     mehr verachten als das Geschwätz ihrer anonymen Kundschaft. Es folgen die »Taxifahrer«, die heute hier und morgen dort eine
     Webside erstellen, die Programmierer von komplizierter Software und Betriebssystemen, die Gruppe der Reparaturspezialisten
     mit ausgeprägter Chaosqualifikation, schließlich das Leitungspersonal und die Firmenchefs. Je näher man der Spitze dieser
     Pyramide kommt, desto häufiger begegnet man Menschen, die ihr Dasein dem Unternehmen widmen, |94| die ihre Arbeit mit Leidenschaft, ja Besessenheit verrichten, desto dünner wird aber auch die Luft für arglose Naturen, für
     menschliche Kontakte jenseits zweckdienlicher Beweggründe.
    So wenig Leben und Beruf, abstrakt gesehen, die Existenz entzweien, so wenig gelangen sie konkret zu voller Deckung. In der
     Fülle seiner Möglichkeiten überragt das Leben jede Arbeit. Wird es ohne Rückstand von ihr aufgesaugt, dann zeugt das immer
     von verkannten und verschenkten Lebenschancen, von Gewalt, die dem einzelnen widerfährt oder die er sich selbst zufügt. Ganz
     ohne Kränkungen, Verletzungen, Schmerzen kann der Produktionsprozeß des postfordistischen Subjekts nicht gelingen. Die Wunden,
     die er der menschlichen Integrität schlägt, mögen auffälliger oder beiläufiger sein, langsamer oder schneller vernarben; aus
     ihnen speist und erinnert sich die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Sie durchbricht die Verkennung oder schafft, wenn
     sie latent bleibt, mindestens die Möglichkeit dazu. Auch in seinem jüngsten Stadium scheitert der Kapitalismus an der historischen
     Schallmauer der Selbstimmunisierung gegen Leid. Arbeit bleibt ein Herd von Widersprüchen. Es rumort im Zentrum des Erwerbssystems
     noch immer hörbarer und vermutlich folgenreicher als an der Peripherie oder jenseits seiner Grenzen.
    6. Aber vielleicht übertreibt der Wunsch das gesellschaftliche Konflikt- und Veränderungspotential der »Lohnarbeit«, verdunkelt
     er in seinem Überschwang ein sehr viel radikaleres Emanzipationsprojekt, das sich mit der abgestuften Freiheit in der Arbeit
     nicht begnügt und die Arbeit endlich selbst befreit? Wenn das Leben nicht gänzlich Arbeit werden kann, ohne dabei zu verkümmern,
     dann liegt das möglicherweise daran, daß man der Arbeit nur ein kümmerliches Dasein zugesteht und das ganze, ungeteilte Leben
     aus ihr ausschließt. Führt man ihr die Energien

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