Buerger, ohne Arbeit
orientiert, desto problematischer gestaltet
sich der Arbeitsanspruch. Mitunter purzeln die Kategorien wild und ungeordnet durcheinander, so daß Arbeit als Grundform menschlicher
Praxis hinter lauter »Arbeit« zu verschwinden droht, konturlos wird, wie in folgendem Dekret:
»Als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkannt werden:
- Erwerbsarbeit
- Ehrenamtliches bürgerschaftliches Engagement
- Familienarbeit
- Bildung (Schule, Ausbildung, Studium, Weiterbildung, Zweitstudium, berufliche Neuqualifikation und ähnliche Bildungsanstrengungen
wie musische, kulturelle, soziale, politische und ökologische Bildung).« 91
Ich besuche einen Malkurs – arbeite ich da in irgendeinem Sinne, der den Gebrauch des Wortes »Arbeit« rechtfertigt? Ich wende
mich liebevoll meinen Kindern zu, übernehme, ehrenamtlich, das Kassieren von Mitgliedsbeiträgen in einem Verein – reihe ich
mich dadurch ins Heer der Arbeitenden ein? Handelt es sich hier überhaupt um formelle, formalisierbare Abläufe, um ausdifferenzierte
Berufsbilder? Wie lange müßte ich diese »Arbeiten« leisten, um der Erwerbsarbeit analog entlohnt zu werden? Wie lange DARF
ich sie umgekehrt versehen, um anderen nicht die Chance zu rauben, auf dieselbe Weise zu »Arbeitenden« zu avancieren? Und
was |100| geschieht, wenn ich an all dem keinen Gefallen finde und dennoch leben möchte? Wird man zu einem System der Zwangsbewirtschaftung
der Arbeit greifen, das jede und jeden unter »Arbeit« subsumiert, dem Grundsatz folgend: Hauptsache, alle arbeiten, gleichgültig
wie und was? Eine Welt voller Kautelen, Abrechnungen, Registraturen, Beratern und Mentoren. Und das alles nur, damit der Bürger
Arbeiter bleibt, wenn auch Arbeiter en miniature.
Die allzuforsch zur »gesellschaftlich notwendigen Arbeit« versammelten Aktivitäten liegen nicht nebeneinander wie Kartoffeln
auf einem Teller. Einige taugen zur Arbeit, andere gehören ins Reich der Tätigkeiten, wieder andere entsprechen dem, was man
umgangssprachlich »Handeln« nennt, und manche können zur Arbeit nur aufsteigen, indem sie fallen, ihre Autonomie und ihre
Würde verleugnen. Liebe, Zuwendung, Menschlichkeit als Beruf – das ist der Totalitarismus der Warenform, das Gespenst der
Freiheit, universelle Prostitution. So macht man aus der Tugend eine Not.
4. Der erweiterte Arbeitsbegriff in der Klemme. Auszug aus einem öffentlichen Gespräch des Soziologen Oskar Negt mit Verteidigern
des »Rechts auf Faulheit«:
»NEGT: Sie lösen die Arbeitsgesellschaft in Ihren Gedanken auf, aber nicht in der Realität … Ich halte das für ziemlich ausgedacht.
FRAU AUS DEM PUBLIKUM: Alles Neue war am Anfang ausgedacht!
NEGT: Sicher! Aber welcher Begriff ist unpräziser als der vom ›Recht auf Faulheit‹? Davon halte ich gar nichts! Der Arbeitsbegriff,
den ich verwende, ist nicht unpräzise. Natürlich habe ich von einer für das Gemeinwesen nützlichen Arbeit gesprochen. Ich
hätte auch auf Beziehungsarbeit eingehen können. Für mich ist Arbeit vielfältig und immer konkret kulturell bestimmt …
MANN AUS DEM PUBLIKUM: Herr Negt, wenn Sie mal auf dem Bau oder im Supermarkt arbeiten müssten, dann würden Sie uns endlich
verstehen!
|101| NEGT: Was würde ich verstehen? Ich verstehe ja das Gefühl, dass Menschen keine Lust haben, entfremdete Arbeit zu machen!
DER MANN: Überhaupt keine Arbeit!
NEGT: Was? Überhaupt keine Arbeit? Was machen Sie dann? Sitzen Sie den ganzen Tag vorm Fernseher? Das ist eine tolle Emanzipation!
GESPRÄCHSPARTNER AUF DEM PODIUM (G. PAOLI): Nun haben wir drei Tage diskutiert, um das am Ende zu hören – entweder arbeiten
oder fernsehen! Was soll das! Ich kann das nicht fassen!
NEGT: Jetzt glauben Sie wohl, einen großen Triumph über mich errungen zu haben!
PAOLI : Gar nicht!
Aufregung im Saal
.
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5. Die unangenehmen Folgen mangelnder Begriffsbestimmung zeigen sich selbst dort, wo am Ausgangspunkt das explizite Bedürfnis
steht, »Begriffe zu klären: Was ist Arbeit, Beschäftigung, Tätigkeit?«. 93 Doch statt der versprochenen Klärung erfolgt eine verschwommene Ausweitung des Arbeitsbegriffs, das Nebeneinanderstellen
von Sachverhalten: »Zwar ist Arbeit, auch als Eigenarbeit und freie Tätigkeit, nie nur Lust, nur mühelose Verausgabung schöpferischer
Phantasie, sondern immer mit Anstrengung und Verzicht verbunden, nie ganz und gar selbstbestimmt, weil der Widerstand der
Dinge und die Notwendigkeit der Kooperation
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