Buerger, ohne Arbeit
weil man sie für überflüssig hielt:
auch das kehrt nun zurück. »Was tut ihr da anderes, ich bitte euch, als daß ihr sie erst zu Dieben macht und dann bestraft?« 147 erregte sich Thomas Morus über den amtlichen Irrsinn, und man meint, er spricht zu uns.
Mit der ernsten Fraktur der zünftischen Ordnung breitete sich die Krise erstmals auch im Inneren der etablierten Gesellschaft
aus. Genau genommen handelte es sich um eine Krise der Nachfolgeordnung. Einerseits machten Manufakturen dem traditionellen
Handwerk Aufträge, Kundschaft und folglich auch die Arbeit streitig, andererseits wuchs die Bevölkerung, und mehr junge Männer
als zuvor drängten in die klassischen Berufe. Dort angekommen, kamen sie nicht weiter wie gewohnt. Relativ gesehen, stiegen
immer weniger Gesellen zum Meister auf und sahen sich dazu verurteilt, eine Art Lohnarbeiterklasse auf Lebenszeit zu bilden.
Teils kam es zu lang andauernden Streiks, teils zu Versuchen, die Einstellungen zu kontrollieren, das heißt, die Zahl der
Nachrücker auf die Aufstiegsbedürfnisse der im Beruf schon |155| Fortgeschrittenen abzustimmen. Als das nicht den gewohnten Erfolg zeitigte, brachen Anwärter auf den Meisterbrief bewußt mit
der herrschenden Sitte und ließen sich auf eigene Rechnung nieder. Diese CHAMBRELANS (dt. »Böhnhasen«) trafen auf die vereinte
Abwehr von absolutistischem Staat und ständischem Bürgertum. Man besann sich der berüchtigten
Lettres de cachet
und zog die Aufmüpfigen aus dem Verkehr. Es handelte sich dabei um Internierungsverfügungen, die gewöhnliche Bürger im Ancien
régime beim König erwirkten, um Menschen aus ihrer Mitte ohne Gerichtsverfahren und zeitliche Befristung ins Gefängnis zu
werfen, oft genug ein Leben lang. In einer Gesellschaft, in der der einzelne stets und zuerst Träger kollektiver Werte und
Verpflichtungen ist, regulierten die
Lettres
private Konflikte ohne öffentliches Aufsehen, stellten sie die Familien- oder Berufsehre wieder her, wenn ein Familienmitglied
allzuoffensichtlich gefehlt und dadurch Schande auf das ganze Haus gezogen hatte. Die Verfügung konnte aber auch gänzlich
unbescholtene Bürger treffen; Neid, Mißgunst, Konkurrenzgelüste kleideten sich in die fadenscheinigsten Anschuldigungen und
erreichten in vielen Fällen ihr makabres Ziel. 148 Die Verhaftbriefe in den Dienst ökonomischer Regulierungen zu stellen lag da nur nahe, besonders wenn es galt, eine Verschwörung
gegen die Tradition zu sühnen.
4. Die Kritik an diesem folgenblinden und wenig effizienten Umgang mit sozialen Verlierern und Gescheiterten kam von verschiedenen
Seiten. Es waren Philosophen und Ökonomen, Ärzte und Erzieher, bemerkenswerterweise auch Direktoren von Gefängnissen und Hospitälern,
die sich noch im Vorfeld der Französischen Revolution auf ein reformiertes System der Armutspolitik verständigten. 149 Das Los der Armen zu bessern, indem man ihnen ins Gewissen redete oder, wie in Deutschland und in der Schweiz, »pädagogische
Provinzen« errichtete, wo auch die Kinder armer Leute etwas lernen konnten, war sicher lobenswert. Den Ursachen des menschlichen
Unglücks rückte man damit nicht zu Leibe. |156| Die lagen im System. DAS behandelte Krüppel, Kranke, Bettler, geistig Umnachtete, selbst alleinstehende Alte noch immer wie
Verbrecher. DAS sperrte diese beklagenswerten Geschöpfe mit Dieben und Mördern zusammen, ohne ihnen auch nur die geringste
Betreuung und Förderung zuteil werden zu lassen. DAS ließ es nicht nur zu, sondern sah es gern, wenn Eltern ihre Kinder, Kinder
ihre Eltern, Verwandte ihre Nächsten beim König als Lügner, Säufer, Diebe oder Schläger denunzierten. Hier und nirgendwo anders
war der Hebel anzusetzen. Um die »soziale Frage« erfolgversprechend debattieren zu können, mußte man die von ihr Betroffenen
überhaupt erst einmal wieder sichtbar machen. Darüber herrschte Einigkeit. – Noch in einer weiteren Hinsicht war man einer
Meinung. Die geistigen Leitlinien der Befriedung des sozialen Elends waren wirr und aberwitzig. Sie verhöhnten die Menschenwürde.
Sie mußten umgehend durch »rationale« Prinzipien ersetzt werden. Zu diesem Zweck traf man eine doppelte Unterscheidung. Zunächst
unterschied man zwischen willentlich herbeigeführtem und unverschuldetem Unglück oder zwischen VERFEHLUNG und SCHICKSAL. Die
zweite Unterscheidung spaltete die Großgruppe der vom Schicksal Herumgestoßenen in solche, die sich aus
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